::: Zorin [ Teil II ] Meter um Meter quälen wir uns im Schritttempo in die Berge hinauf, ich kann mir kaum noch vorstellen, dass sich irgendjemand diese Straße herauf bemüht, um schifahren zu gehen. Hinter einer Kurve passieren wir die große Geröllhalde irgendeines Aushubes unter Tage, dann wird die Straße etwas besser. Noch etwa ein Kilometer folgen wir ihr, bis urplötzlich hinter dem nächsten Vorsprung das rote Dach der Talstation des Sesselliftes erscheint. Der Parkplatz ist gut gefüllt, mit Autos und sogar Bussen! Die alten Zweiersessel der Anlage kreuzen still die Straße.
Ein alter Dacia steht auf dem Parkplatz.Mittlerweile ist es fast drei Uhr. Wir steigen aus, erkunden den Ort. Faszinierend ist die Talstation, ob des wenigen Platzes geschickt in das Bachbett auf eine Brückenkonstruktion gesetzt. Kris fühlt sich an Laveno erinnert, auch meine Gedanken sind gleich dorthin geschweift. Die Anlage ist frisch restauriert, macht einen sehr interessanten Eindruck, in Silber und Orangerot. Errichtet wurde sie um 1976 von einem rumänischen Hersteller. Auf der Einstiegsplattform treffen wir einige Leute, einer spricht Deutsch und Italienisch. In der Hand hält er einen gigantischen Schraubenschlüssel. Wir kommen ins Gespräch. „Wir haben ein Problem mit einem Schlepplift oben, darum fahr ich jetzt rauf.“ - „Können wir oben schifahren?“ – „Ja, das geht. Aber heute ist es schon ein bisschen spät.“ – „Und kann man oben auch übernachten?“ – „Ja, wir haben ein Hotel.“
Alles klar! Wir ziehen uns um, holen Gepäck und Schi, 40 Lei kosten Berg- und Talfahrt pro Person, das sind zehn Euro. Dafür bekommt man eine einmalige Fahrt durch die einsamen Ausläufer der Südkarpaten, 3490m Strecke auf dem längsten Sessellift Europas, vielleicht der ganzen Welt überhaupt.
Das Einsteigen allein hat etwas von einem Stunt. Vier Angestellte des Liftes sind daran beteiligt, halten den Sessel zum Einstieg, laden die Schi in die Köcher, das Gepäck gestapelt in den folgenden Sessel, stellen sich vor den herannahenden Sessel mit einer Decke, die sie zuwerfen, bevor sie im letztem Moment zur Seite springen. „KlackKlackKlackKlackKlack“ – wir sind in der Luft.
Aus dem kleinen engen Tal schwingt sich der Lift durch den lichten Laubwald auf einen ersten Hügel, viel Schnee liegt hier noch nicht, aber wir sind auch noch sehr niedrig. Die Anlage fasziniert in Farbe und Formensprache, Simplizität und Einfallsreichtum. Gleichermaßen besonders ist die Geräuschkulisse, das vertraute Quietschen der Einlagegummis, das metallene präzise Klackern der Niederhalterrollen. Irgendwie ist es – fast ironisch mag man meinen – ein wahnsinnig schönes Naturerlebnis so ohne Eile durch diese unglaublich einsamen Wälder zu gleiten. Bäche rauschen zwischen den Stützen hinab, Täler queren die Trasse, kaum ist man über den ersten Höhenrücken hinweg, sind Straße und Talstation außer Sicht, hat man den Eindruck hundert Kilometer von Zivilisation entfernt zu sein – Carpathia!
Krasse geringe Überfahrtshöhe an manchen Stellen, teilweise streifen auch die Äste der Bäume die Beine.Zu unserem Erstaunen erreichen wir bald auf einem weiteren Höhenrücken ein kleines Gebäude neben der Trasse, das entfernt an ein Wärterhäuschen eines Schleppliftes erinnert. Rauch steigt aus dem Schornstein, tatsächlich sitzt dort jemand, wir grüßen, der Gruß wird freundlich erwidert. Wir spekulieren etwas über den Sinn dieses Postens, später erfahren wir, dass die ganze Strecke durch solche Streckenposten überwacht wird. Gleichzeitig kommt in einem talwärts fahrenden Sessel ein Bediensteter des Liftes uns entgegen, er albert mit dem Streckenposten herum und – Pflatsch! – landet der erste von mehreren gut gezielten Schneebällen auf seiner Schulter. Noch drei weitere Treffer muss der Arme einstecken, bis er endlich außer Wurfweite ist.
Streckenposten.Die Trasse verläuft nun erst einmal mit wenig Steigung, quert Täler, bis sie einen weiteren bewaldeten Höhenrücken erreicht. Hier steht der nächste Streckenposten und auch ein hölzerner Einstieg in den Lift findet sich. Ein schneller Blick nach links lässt mich erkennen warum: eine Piste kommt von oben hinab und mündet an dieser Stelle auf die Lifttrasse. Bei besserer Schneelage muss es genial sein, hier hinab zu fahren, Spuren lassen erkennen, dass dies diesen Winter schon der Fall gewesen ist.
Der Lift gewinnt nun zusehends an Höhe, die Bäume werden kleiner, die Landschaft karger, der Blick wird frei auf die 2000er im Osten, der höchste Punkt dieses Teils der Karpaten, wie uns unser späterer Wirt aus dem Sessel vor uns zuruft. Die Landschaft ist weit hier oben, ein schier endloser weißer Höhenrücken, unterbrochen einzig durch die Stützen des Liftes. Gut fünfundzwanzig Minuten sind wir nun unterwegs, der Wind frischt auf, trifft auf die ungeschützte Lifttrasse. Am Gipfel wird eine weitere Station sichtbar, ein kleiner Seillift daneben, eine Rampe für den Ausstieg. Hier befindet sich also der Ausgangspunkt für die Piste zurück zur zweiten Mittelstation.
Von Westen zieht eine Warmfront herein, ihre Sturmböen peitschen gegen den Lift, stellen die Sessel schräg in der Luft. Mit zunehmender Höhe wird der weiße Rücken des Muntele Mic im Hintergrund sichtbarer, mit seinen zwei Schleppliften. Der hintere, längere ist heute außer Betrieb, der vordere aber läuft. Wir passieren die Mittelstation am höchsten Punkt, der Sturm pfeift über die Hochfläche, der Lift verliert wieder an Höhe, sinkt hinab in das Hochtal, da neben den Schleppliften ein Ansammlung von Hotels beherbergt. Einige neuere sind darunter, in leuchtenden Farben, aber etwas kunterbunt zusammengewürfelt. „Hier baut jeder wie er will – leider!“ erklärt unser Wirt später. Daneben steht ein düsteres Monument einer andere Ära: das seit Jahrzehnten verlassene Hochhaus des ehemaligen Hotel Sedes ragt bedrohlich in den Himmel. „Sowas bringt nur der Kommunismus hervor“, kommentiert er mit einem verächtlichen, vielleicht auch etwas traurigen Kopfschütteln.
Sturmböen.Wir springen aus dem Lift, die Schi werden entladen, unser Gepäck zusammen mit anderen Dingen aus dem folgenden Sessel geholt. Kris schaut etwas kritisch. „Wo ist mein Rucksack?“. Oh, das ist nicht gut, da sind neben diversen anderen wichtigen Dingen auch Autoschlüssel und iPhone drin. Wir schauen die Bilder von unterwegs an, auf den ersten liegt er noch deutlich erkennbar auf dem Sessel hinter uns oben auf. Dann ist der Rucksack jedenfalls hinter uns verladen worden. Das bedeutet dann aber auch etwas anderes noch: der Rucksack ist irgendwo auf den 3492m aus dem Lift gefallen. Das darf nicht wahr sein, was bitte machen wir denn jetzt? Wir schildern unser Problem, ein kurzes Telephonat, der Streckenposten weiß Bescheid: der Rucksack ist durch den Sturm auf den letzten Metern aus dem Lift gefallen. Sofort macht sich einer der Liftbediensteten mit einem Seil im nächsten Sessel auf –es sieht fast so aus als würde er sich zum Rucksack abseilen wollen.
„Sie bringen den Rucksack später zum Hotel, kommen Sie“, sagt unser Wirt. Er führt uns aus der Station, den Weg entlang in Richtung der Schlepplifte. Ein faszinierendes Ambiente hier oben, rumänische Dancemusik, ein Schlepplift ohne Trasse mit gelblackierten Stützen aus den 70er Jahren und dazwischen ein buntes Treiben junger Rumänen, die ersichtlich eine Menge Spaß hier oben haben.
Wir erreichen schließlich das Hotel direkt am Fuße des hinteren Schleppliftes, eine Doppelmayr-Anlage. Die Seilscheibe liegt neben dem Lift, das Seil ist abgespannt, mehrere Leute sind beschäftigt an dem Lift herum zuarbeiten. „Ciao Zorin“, unser Wirt lebhaft begrüßt. Sie wechseln einige Worte, Zorin gibt ein paar Anweisungen, wie es scheint. Dann erzählt er ein bisschen. „Wir hatten vor etwa zehn Tage einen Lagerschaden an der Seilscheibe. Dann mussten wir Seilscheibe und Getriebe ausbauen. Zu dem Zeitpunkt lagen hier noch gut 1,50m Schnee. Der Traktor, den Du da siehst, der ist überhaupt erst seit wenigen Tagen hier. Vorher mussten wir von Hand arbeiten. Also haben wir einen Bock gebaut, und dann die Seilscheiben mit Getriebe von Hand abgelassen.“
Wir sind beeindruckt. „Hier oben muss man manchmal improvisieren. Das Lager saß in der Seilscheibe so fest, das haben wir mit einer 100t Presse nicht ausgepresst bekommen. Das ging nur mit viel Geduld, erhitzen, abkühlen, erhitzen, abkühlen und so weiter. Na ja, jetzt sind wir fast fertig, ich denke heute abend läuft der Lift.“ Er grinst. Ich bin gespannt noch sieht das alles nicht sehr fertig aus, aber das Engagement und Improvisationstalent der Leute fasziniert mich!
Man sieht die Spuren des Erhitzens noch deutlich.Eine blonde, sehr chique Dame kommt zu uns. „Das ist meine Frau. Sie wir Ihnen die Zimmer zeigen.“ Tatsächlich gibt es noch genug Dinge hinsichtlich des Liftes zu besprechen, so dass es einen Moment dauert, bis wir zu den Zimmern gehen. In einem Holzchalet befinden sich um Untergeschoss einige Räume. „Das große Hotel links am Lift, das habe ich gekauft als wir hierher gekommen sind“, erzählt Zorin. „Aber das hier…“, er deutet auf das Holz um uns, „daran hängt mein Herz.“ Wir bringen unser Gepäck unter, treffen Zorin vor dem Haus. „Wenn Ihr wollt, dann kommt nachher ins Restaurant, dort treffen wir uns.“
So brechen wir zu einem Erkundungsgang auf. Eigentlich sollte das alles hier oben – wie vielleicht auch auf den Bildern – düster und melancholisch wirken, mit dem wenigen Schnee, den halbfertigen neuen Häusern, den teils noch nicht renovierten älteren Gebäuden. Aber das tut es nicht! Denn die Stimmung ist eine andere: man spürt, dass sich die Dinge hier bewegen, Aufbruch steht an, die Stimmung ist insgesamt sehr locker und gelassen. Ein bisschen denke ich an das 3A.
Eine wunderbare Improvisation ist der Schlepplift mit den gelben Stützen. Insgesamt vier verschiedene Bügel können wir beobachten: Kurzbügel aus Holz, längere Bügel aus Plastik, Teller und Ultra-Mini-Bügel, die wohl aus abgebrochenen Plastikbügeln entstanden sind. Die Leute steigen direkt am Weg ein und fahren durch die passierenden trubligen Massen mitten hindurch. Manchmal zu zweit, manchmal allein, dann gibt der junge Typ am Lift die Bügel gleich so an, dass man sie zwischen den Beinen durchstecken kann. Am Ausstieg oben führt das gerne zu spektakulären Stürzen der Kids, die den Bügel dort nämlich alleine nicht mehr ohne weiteres wegbekommen. Aber das scheint zur Reifeprüfung des Schifahrens in Rumänien dazu zu gehören. Einmal stellt sich einer der vielen Schlittenfahrer bei einem Schifahrer hinten mit auf die Schi. Genau zwei Meter schaffen es die beiden, dann reißt der Bügel vom Seil und sie liegen im Schnee. Dass überhaupt so vielen den überhaupt nicht trivialen Einstieg über die Steilstelle, wo die Straße aus dem Schnee gefräst wurde, in den unplanierten Hang darüber und trassenlos bis oben schaffen, finde ich faszinierend. Scheinbar schult all das, ich finde es großartig, gemeinsam lachen wir über die all die schwachsinnigen Diskussionen bei uns daheim über automatische Schließbügelsysteme und Ampeln am Ausstieg. Das alles ist hier so weit weg, dass es einem nur absurd vorkommen kann.
Dann laufen wir zum Hotel „Sedes“, dem düsteren Koloss aus der Ära Ceauşescus. Er eignet sich genial für düstere Photos, steht aber eigentlich in totalem Kontrast zu der realen Stimmung hier oben und auch abseits genug, um nicht wirklich Teil des Ortsbildes zu sein. Als Photomotiv hingegen ist es genial. Ein paar alte Liftreste liegen dort ebenfalls gelagert. Ein niemals aufgestellter Lift eines Vorgängerversuchs, das Gebiet zu reaktivieren, wie uns Zorin später erzählt
Es ist sechs Uhr und dämmert, die Lifte laufen aber immer noch und immer noch herrscht buntes Treiben. Wir machen uns auf dem Rückweg zu unserer Unterkunft. Die Seilscheibe ist mittlerweile montiert, demnächst wird das Seil gespannt. Zorin kommt zu uns herüber. „Wart ihr schon im Restaurant? Nein? Dann kommt mal mit, dann können wir uns ein bisschen unterhalten.“.