Carpathia [ Teil III ]Es ist ein seltsames Gefühl durch diesen einsamen Wald zu laufen. Nur zu präsent sind mir die diversen Warnschilder mit den Bären, in den letzten Jahren gab es hier mehrere tödliche Begegnungen, obwohl diese Tiere eigentlich friedliebend sind und normalerweise versuchen, Menschen zu meiden. Doch hier bin ich in ihrem Revier und die Dämmerung naht, die Zeit, in der sie am aktivsten sind. So habe ich ein leichtes Unbehagen im Nacken und versuche, den Teil mit dem dichten Wald so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Ein bisschen beruhigt mich die Anwesenheit des Hundes, der mit ziemlicher Sicherheit ein Zeichen geben würde, wenn ein Bär in der Nähe wäre. Überhaupt fasziniert mich das Tier. Er bleibt in der Nähe, kommt aber niemals so dicht heran, dass es unangenehm wäre, läuft voraus und ist doch immer wieder bald in Sicht. Ziemlich schnell bemerke ich auch, dass der Hund erheblich viel mehr Ahnung davon hat, wie man sich in diesem Gelände bewegt, als ich. Von mehreren möglichen Passagen wählt er stets die (auch für mich) richtige aus, so dass ich bald dazu übergehe, ihm einfach zu folgen. Mehrere mal stelle ich weiter oben am Hang dann fest, dass ich für diese Führung dankbar sein kann, auch wenn die Erinnerung an die Abfahrt und die Aufstiegsspur vielleicht meistens auch ausgereicht hätten.
Tatsächlich komme ich gut voran, und solange es nicht allzu steil ist, habe ich konditionell überhaupt keine Probleme. Auch als die freien Flächen der Flanke beginnen, die wir hinab gefahren sind, bin ich erstaunt, wie gut ich dort hinauf komme. Ich muss stets zusehen, dass ich nicht zu steil gehe, aber dann ist alles kein Problem. Daran erkennt man, dass ich normalerweise im Flachland Sport betreibe: ich habe eine ganz gute Kondition, gerade auch was Langstrecken angeht und auch ein bisschen Steigung macht mir nichts. Ab einem bestimmten Grad der Steilheilt kippt dies allerdings schlagartig, mein Puls verschnellert sich rapide und ich muss extrem langsam gehen. Bei den richtigen Bergsportlern liegt dieser Punkt – so er denn überhaupt existiert – jedenfalls deutlich verschoben. Sobald es etwas steiler wird, hängen mich routinierte Tourengeher wie Kris, die einfach die Falllinie gehen, in kürzester Zeit ab.
Photo by Kris.Hier ist das Gefälle zum Glück über lange Strecken relativ gleichmäßig, so dass es erst im Bereich der markierten Route am oberen Ende der Flanke ist, dass Kris mich von hinten einholt und wir einander wiedertreffen. Auf den folgenden steilen Metern bis zur markierten Traverse, die wir heute Mittag gekommen sind, falle ich dann aber schnell deutlich zurück. Auf diesen steilen Passagen macht sich auch meine nicht ausgereifte Tourengehtechnik bemerkbar, was das Gehen für mich anstrengender macht als nötig. Manchmal suche ich mir auch einfach schlechte Hangpartien aus, vergessend, dass man auf dem eisig-blanken Schnee keinen guten Halt findet beim Traversieren, so dass das Serpentinengehen sehr unangenehem ist, wenn man seine Route nicht bedacht wählt.
Die Wolkenbänder und Türme sind mittlerweile immer dichter herangerückt, bedrohlich schieben sie sich über die westlichen Kämme der Carpathen, verdecken die Sonne. Es wird kühler als ich Passage mit dem Bach erreiche, hinter der sich die weite Traverse befindet, die wir ganz am Anfang gekommen waren, weit ist es nicht mehr bis zu unserem Einstiegspunkt. Das kurze Stück zwischen den Bäumen an dem steil abfallenden Hang ist das letzte, wo man ein wenig achtgeben muss. Während ich vorsichtig aufsteige, sehe ich zwischen den Stämmen unterhalb den Gedenkstein eines jungen Mädchens, das hier vor beinahe dreißig Jahren ums Leben gekommen sein muss. Die kleinere Schrift darunter kann ich im Halbdunkel nicht entziffern…
Das Queren der Flanken geht erneut relativ zügig von Statten, bald stehe ich an dem Punkt, wo wir heute mittag auf die markierte Route getroffen sind und wo auch Kris nun wartet. Es ist viertel vor fünf, die Dämmerung setzt ein. Ich hole die Jacke aus dem Rucksack und ziehe sie an, es ist ziemlich kühl mittlerweile, der Wind frischt auf. Als ich mich umdrehe, um mit Kris die weitere Route zu besprechen, sehe ich, dass schon er schon etwa hundert Meter in eine Senke hinab gefahren ist, weiter in Richtung der Berge von Sinaia. Ich rufe, die Senke mündet in einen Canyon, das habe ich heute mittag gesehen, er dreht sich um, ich versuche zu bedeuten, dass ich auf der markierten Route bleiben will. Ich weiß nicht genau, ob er mich verstanden hat, einen Augenblick später ist er hinter einer Erhebung verschwunden.
Ich gehe einige Meter weiter auf der markierten Route, teils um zu sehen, wohin sie weiter führen wird, teils in der Hoffnung, irgendwie noch einmal Kontakt zu Kris aufzunehmen. Vis-à-vis finden sich steile Hänge mit teils unterholzartigem Gestrüpp, diese bei den eisigen Verhältnissen aufzusteigen, scheint mir keine gute Idee. Was für ein Gelände sich südlich davon anschließt, lässt sich von hier aus nicht erkennen. Generell sollten die Hänge irgendwann weiter und flacher werden, aber ob noch ein steiles, möglicherweise sogar felsiges, ausgewaschenes Tal dazwischen liegt, ist nicht auszumachen. Ich sehe nur die Öffnung des Canyons… in Madesimo, vor gut sechs Wochen, sind wir in genau einem solchen gestrandet und mussten durch den Wald zurück aufsteigen - keine große Freude.
Nachdem ich den Sattel, wo sich unsere Wege getrennt hatten, durchquert habe, sehe ich den weiteren Verlauf der markierten Route: sie führt zu einem großen Rifugio, etwas weiter als auf halbem Wege von Babele zur Cota 2000. Bis zu diesem sind es noch gut eineinhalb Kilometer, aber das Gelände ist eben. Das Gebäude habe ich bei der Routenplanung heute mittag von der Bergstation in Babele aus gesehen, von dort führten deutlich ausgetretene Spuren den Höhenrücken entlang zur Cota 2000. Der Canyon hingegen sieht zusehends schwerer passierbar aus, je weiter ich hinein schauen kann….
Ich grübele kurz, dann ist für mich die Sache entschieden: mittlerweile ist es nach fünf, es wird noch etwa 45 Minuten dauern, dann ist das Tageslicht weitestgehend verblasst. Weder kann ich den Canyon rechts unterhalb von mir einschätzen, noch weiß ich, was für ein Gelände sich daran anschließt. Zudem birgt die Passage am Rifugio die Option, im Notfall dort ein Telephon vorzufinden (mein Mobiltelephon funktioniert bisher in Rumänien nicht) und im aller schlimmsten Fall auch eine Unterkunft, wenn sich herausstellen sollte, dass ich Sinaia nicht mehr erreichen kann, weil irgendeine Passage nicht gangbar ist. Kurz vor Einbruch der Nacht in spurenloses mir völlig unbekanntes Terrain abzufahren, scheint mir bei realistischer Einschätzung meiner alpinistischen Fähigkeiten zu riskant. Zwar ist die Strecke über das Rifugio ein Umweg, aber kein großer und bei der zu erwartenden gleichmäßigen Steigung für mich sogar ein vermutlich erheblich schnellerer Weg.
Unschön ist einzig, dass ich nicht weiß, ob Kris tatsächlich gesehen hat, dass ich auf der Route geblieben bin. Um ihn selber mache ich mir wenig Sorgen, ich habe keine Zweifel, dass er auch in unwegsamem Terrain zügig genug vorankommen wird und weiß, was zu tun ist. Aber trotzdem ist das keine gute Situation, wenn wir voneinander nicht wissen, wo wir sind, auch wenn wir beide gewohnt sind, autark zu agieren. Aber das alles kann ich gerade nicht ändern, und das auch deshalb, weil er einfach weiter gefahren ist, ohne mit mir zu sprechen. Das ist etwas, das mich in diesem Moment auch ärgert, auf diese Art und Weise vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, und so fällt es mir vielleicht darum auch etwas leichter, genauso meiner eigenen Route zu folgen wie mein Gefährte. Wenn alles gut läuft, denke ich, stehen die Chancen sogar nicht schlecht, dass wir in etwa gleichzeitig die Cota 2000 erreichen – dann ist das eh unproblematisch. Und so marschiere ich zügigen Schrittes los, immer auf das Rifugio zu…
Ein seltsames Gefühl der Euphorie erfasst mich in dieser einsamen Weite beim Durchqueren der Hochfläche. Ich bin völlig allein, der Körper Maschine, der Geist aber frei. Die Front hinter mir schickt tastend ihre ersten Finger über das dämmernde Firmament, wo die Sonne unter den Wolken hindurch scheint, taucht sie die Ebene in ein blassrotes Licht. Es scheint als wären Zeit und Raum vergangen, Schritt für Schritt gleiten die Ski geräuschlos durch die Stille, mein Körper verbrennt, was ihm energiespendend zur Verfügung steht, ich fühle die Erschöpfung nicht, aber sie mag Teil dieser besonderen Stimmung sein, die ich empfinde. Surreal ist die Welt, der Geist losgelöst von Realitäten, eine Sagenwelt, phantastischer Mythos, überbordende Emotionen und zauberhafter Glanz um mich herum…
Gut zwanzig Minuten später erreiche ich das Rifugio. Als ich auf den abzweigenden Weg in Richtung Cota 2000 treffe, kommt vom Haus ein Mann auf mich zu. Wir grüßen einander, er spricht mich an. „How is the snow?“ – „Depends. Actually, I am more than happy with it, as hiking otherwise would be much less easy, though I guess powdering you’d call something different.” – “I daresay. So… tell me, where are you going?” – “I need to return to Sinaia.” – “Sinaia?”. Er überlegt einen Moment und nickt. “Ok. You will need to follow the tracks up there, just stick to the yellow signs, they mark the way. Hm… you look like you know about skiing, so I guess in an hour you can be there. There is also an alternative route, but I guess easiest to just follow the yellow signs, they will lead you directly to the spot. … hm… do you have crampons?” – “No.” – “Ok, yes, simply follow the main track. As I told, there is an alternative, but well… I don’t know, by now it might be ok, but there have been also some huge avalanches in the last years, so you might want to prefer the principal track.” – “Ok, the YELLOW signs then?” – “Exactly!”.
Er lacht, ich bedanke mich, und mache mich auf den Weg. Während ich den Hang oberhalb des Rifugios hinaufsteige, kreisen meine Gedanken ein wenig um das Gespräch. Der Mann wirkte alpinistisch erfahren, ich vermute, dass er am Rifugio arbeitet oder zumindest mit diesem irgendwie verbunden ist. Was mich nachdenklich macht, ist der Verlauf des Gesprächs. Da war eine gewisse Sorge, wohl nicht zuletzt wegen der fortgeschrittenen Uhrzeit. Es ist zwanzig nach fünf mittlerweile, es wird sehr bald dunkel und ich habe keine Lampe. Was mich aber mehr beunruhigt hat, war dieses Gespräch über die Alternativroute. Ich würde für gewöhnlich gar nicht auf die Idee kommen, um diese Uhrzeit eine Alternativroute auszuprobieren, wenn es eine markierte und viel begangene Hauptroute gibt. Vor allem aber die Art davon zu sprechen, fällt mir auf. Die Alpinisten sagen ja nie, dass etwas gefährlich ist, sie drücken diese Dinge anders aus. Mal sind Routen ungünstig heute, oder einfach nicht optimal. Ich glaube, diese berüchtigte Alternativroute ist eine davon…
Die Front zieht immer weiter in den Himmel, die Stimmung wird immer bizarrer. Mit den düsteren Wolkenarmen erreichen die ersten Sturmböen jenen Felsgrat der Carpathen, dem ich folge. Der Wind wirbelt den Schnee in die Luft, in dem sich das ersterbende Tageslicht bricht, rauscht über den Grat, trifft mein Gesicht. Das Spiel aus Licht, Wolken und Sturm ist überwältigend. Irgendwann passiere ich ein altes Laufstadium, mitten in der Eiswüste halb im verwehten Schnee versunken, ein bizarrer Anblick im entfremdeten Licht der Sturmes. Weiter hinter mit die alte Station der Pendelbahn in der eisigen Wildnis…
Ich passiere Grenzwelten, dunkel bedrohliche Himmel, feenhaftes Licht… das gleißende Eis reflektiert all dies, vor die finsteren Wolken wirf der Wind die Eiskristalle, die im Streiflicht erglühen… mein Gefährte sind sie, Wind und Eis, so unwirklich diese Welt, die stark die Kontraste aus phantomhafter Bedrohlichkeit der Sturmfront und dem passierenden fragilen Licht…
Langsam lasse ich den weiten Höhenrücken hinter mir, fast zwei weitere Kilometer habe ich seit dem Treffen am Rifugio zurückgelegt, es ist zwanzig vor sechs als ich einen Sattel erreiche. Seit einiger Zeit begleitet mich wieder ein Hund, der vermutlich zu der Berghütte gehört, der andere muss vorher Kris gefolgt sein. Das Tier läuft geradeaus weiter, wo die Spuren steil den Berg hinauf führen. Die Markierungen teilen sich hier, die gelben umgehen den Berg links von mir auf seiner Ostflanke. Die Direttissima allerdings ebenfalls markiert: ist schwarz-gelb. Das dort vor mir muss die Alternativroute sein, vor der ich gewarnt wurde.
Ich folge der Spur und den gelben Schildern links um den Berg herum. Bald beginnt das Gelände links von mir leicht abzufallen, die Spur nutzt eine weite Terrasse in der Flanke. Mein vierbeiniger Gefährte läuft über den Schnee zu mir herüber, begleitet mich ein Stück, dann läuft er wieder zurück zu der anderen Spur. Na, denke ich, unser erster hündischer Führer heute kannte sich aber besser aus als Du mein lieber, der wusste wo es langgeht. Vielleicht hätte ich hier ein wenig nachdenklich werden sollen, doch denke ich mir nichts, und folge weiter der Spur auf der beschriebenen Route entlang.
Schon bald merke ich, dass das Gehen mir schwerer fällt. Nicht nur bin ich erschöpft, auch wird die Spur weniger deutlich. Ich wundere mich, es scheint fast so, als seien mehr Leute das Risiko der Alternativroute eingegangen als auf dem beschriebenen Normalweg zu bleiben. Der Sattel liegt ein paar hundert Meter zurück, als ich den Schatten der Bergflanke trete. Mein Instinkt erwacht zusehends, eine innere Unruhe erfasst mich. Noch ist es nicht greifbar, kann ich das Gefühl nicht näher beschreiben, aber ich spüre eine innerliche Warnung.
Es zusehends dunkler, auch merke ich, dass hier in der schattigen Ostflanke das Eis erheblich dicker ist, die vormals dünne Eiskruste, die die Ski immer noch durchbrachen, ist zu einem massiven Eispanzer geworden. Ich beginne mich mehr und mehr umzusehen, je weiter ich den Berg umrunde. Rechts oberhalb von mir türmt sich steil der Felsgipfel auf, auf dessen Rückseite die andere Spur hinaufführte, links fällt die Flanke mittlerweile nach wenigen Metern so steil in eine Schlucht hinein ab, dass ich nicht mehr hinab sehen kann. Ein ziemlich exponierter Ort… . Die Route folgt einer Art Sims oberhalb einer Felswand, der wie ein Balkon mit relativ wenig Quergefälle dieser steile ausgesetzte Flanke durchzieht. Ich beginne unruhiger zu werden, je weiter ich voranschreite, desto mehr warnt mich mein Inneres vor diesem Weg. Die weiten steilen Hänge über mit gefallen mir gar nicht, sie sehen seltsam aus: und plötzlich weiß ich auch warum! Die Form stimmt nicht! Es im Gebirge diese Dinge, die man wahrnimmt – oft nichtmals völlig bewusst –, die einen warnen, selbst wenn man sie nicht immer im Detail sofort beschreiben kann. Dazu gehören Formen und Konsistenzen des Schnees, das Gefühl, wie er sich verhält, wenn man darin fährt. Hier ist es die Geländeform der Hänge über mir, die mich immer wacher werden lässt. Mit jedem Meter deutlicher fällt mir das auf: die Form des Berges ist zu weich! Die Bilder, die ich von Babele aus von den Bergen von Sinaia geschossen habe, zeigen es auch deutlich, vor allem das, welches die steile Route hinauf zu dem Gipfel mit dem Sendemasten, der jetzt rechts oberhalb von mir liegt, zeigt. Es sind runden Formen eines vergletscherten Gipfels, die ich hier sehe, die typischen Gefälleverläufe fehlen, alles ist sanft abgerundet, konvex statt konkav, wie unter vielen Metern Eis begraben. Nur gibt es hier keinen Gletscher! War auf der Hochfläche der Schnee noch teilweise so abgeweht, dass die Grasnarbe herausschaute, liegt hier mit einem male meterweise Schnee: die gesamte Ostflanke des Berges ist ein gigantischer Triebschneehang!
Eine mulmige Beklemmung überkommt mich, als ich im Halbdunkel langsam Schritt für Schritt vorangehe. Wieso wurde mir diese Route empfohlen, diese verwehte Flanke soll sicherer sein als der direkte Weg über den Gipfel? Noch ist von der Route gequerte Hangpartie so flach, dass es zum Auslösen eines Brettes nicht reicht, aber sollte aus irgendeinem Grund der Hang oberhalb auslösen, dann gäbe das ein Schneebrett von einem infernalischem Ausmaß! Auf einer Länge von mehreren hundert Metern könnten die fast 150 Höhenmeter steiler Flankenpartie über mir abgehen und zu Tale donnern. Doch selbst wenn es nur ein Minischneebrett wäre: in wenigen Sekunden wäre ich über die Felskante links von mir gespült, hunderte Meter ins Tal hinab…. Tja, denke ich zynisch, das ist einer dieser Tage, wo Du Dir Deine gesamte Lawinenausrüstung genauso gut schenken kannst…
Zack!! Mein bergseitiger Ski rutscht weg, trifft gegen den linken Talsski, ich wanke, fange das Gewicht auf den Stöcken ab! Mein Herz schlägt bis zum Hals… In meinen Gedanken versunken, den düsteren bedrohlichen Hang über mir beobachtend, ist von mir unbemerkt die Spur beinahe ganz verschwunden. Nur noch minimal, gerade einen Ski breit, ist der flache Durchbruch im blanken Eis entlang der hohen Stahlpfosten, die den Weg weisen. Im letzten Dämmerlicht hatte ich dies nicht bemerkt. Und jetzt erst wird mrt klar, was das bedeutet: wenn nicht einmal die Felle auf dem Eis halten und die Stahlkanten mit den Fellen darüber ebenfalls nicht greifen, dann ist es nur noch der winzige Rest der vereisten Spur gewesen, der ein letztes Minimum an Halt geboten hat! Eine tiefe Angst packt mich, meine Hände beginnen zu zittern und für einen Augenblick wird mir fast schwindelig als ich beginne mich genauer umzusehen: der Hang hat ein Quergefälle von vielleicht 10° und wird nach unten schnell steiler, bis dann in ca. 50m Felsabbrüche folgen in die Schlucht hinab. Auf diesem Eis gibt es mit Sicherheit keinen Halt, wenn man erst einmal zu rutschen beginnt … Oh Gott, ohne auch nur darüber nachzudenken, was ich hier vorfinden werde, bin ich den gelben Schildern in den Hang gefolgt, der vermeintlich sicheren Route entlang ohne Fragen zu stellen. Jetzt endlich begreife ich, was ich die ganze Zeit hätte sehen sollen:
[D a s hier ist die Alternativroute!
Immer noch pfeift der Sturm weit oben über den Grat, die schwarzen Wolken hetzen über das Firmament, ich zittere, und überlege was ich tun soll. Ich bin schon viel zu weit in diesem gottverdammten Hang, als dass ich hier sicher umdrehen könnte. So in etwa stelle ich mir das Gefühl vor, nach 50m zu entdecken, dass man in ein Minenfeld gelaufen ist… Vor allem will ich auf keinen Fall den einen Ski aus der verbleibenden Restspur nehmen. Etwa zwanzig Meter vor mir ist ein Absatz, der wieder etwas flacher ist, den gilt es zu erreichen. So gehe ich mit äußerster Vorsicht voran, jedesmal klamm, wenn der Bergski auf dem spurlosen blanken Eis für einen Augenblick allein das Gewicht tragen muss, sobald ich den Talski bewege. Ich passe peinlich genau auf, das Gewicht sauber gleichmäßig auf die Stöcke zu verteilen und keinen Fehler zu machen. Nur einen Millimeter weit entfernt scheint der Mt. Fort…
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreiche ich schließlich das Flachstück, hier gibt es einen halbwegs sicheren Halt. Jetzt habe ich einen Moment Ruhe, nachzudenken. Ich muss in jedem Fall sofort die Felle abziehen! Das allein wird schon heikel, das An- und Abschnallen auf dem glatten Eis, auf nur einem Ski stehend… Einige Minuten äußerster Konzentration und Anspannung, dann sind beide Ski wieder unter den Füßen, der Puls geht ruhiger. Ohne die Felle greifen jetzt endlich die Stahlkanten der Ski, zumindest einfach abrutschen kann ich nun nicht mehr. Ich schaue nach vorn, es sind noch mal einige sehr ausgesetzte Meter der Flanke zu queren, dann folgt ein Taleinschnitt, die massiven Stahlträger der Markierung sind hier von früheren Lawinen weggefegt worden…
Ich überlege… es geht von nun an leicht bergab, die Passagen mit den Ski abzufahren, erscheint mir kein großes Problem zu sein, nicht gerade trivial, aber machbar. Der wirklich gefährliche, ausgesetzte Teil der Routen liegt hinter mir: Dorthin will ich nur äußerst ungern zurück! Bleibt das Problem der Lawinen… die Zeichen im Schnee sind deutlich zusehen, aber alt. Ich denke nach… die letzten Neuschneefälle müssen mehrere Wochen zurück liegen, wenn nicht gar über einen Monat. Die Schneedecke hatte Wärme erlebt und Regen, und ist dann wieder durchgefroren, das ist eigentlich nicht schlecht für die Stabilität. Aber auf diese laienhafte Analyse sein Leben verwetten?
Ich grübele weiter. Was ich nicht weiß: In Wirklichkeit ist es genau zehn Tage her, dass beinahe das gesamte Skigebiet von Sinaia per Gemeindeerlass zum Sperrgebiet erklärt wurde. Die ganze vordere Front, die Ostflanke, deren steilsten Teil ich gerade durchquere, gehörte dazu, Lawinenwarnstufe 5! Auch ist diese Route, die „Alternative“, der Sommerweg, der Winterweg geht – genau wegen der Lawinengefahr – direkt über den Gipfel. Doch das alles weiß ich nicht… so muss ich mich auf das verlassen, was mir tatsächlich bekannt ist. Der ganze Hang ist von einer extrem stabilen Eisschicht durchzogen. Diese ist so hart und trägt so gut, dass man keine Spuren hinterlässt. Die Kraft, die auf darunter liegende Schichten übertragen werden kann, ist also minimal. Gleichzeitig kann die Eisschicht enorme Kräfte übertragen, selbst wenn sich also partiell Ablösungen vom Untergrund ergeben sollten, könnte die Schicht so einiges aushalten. Auch passiere ich keine Hangpartien mit ausreichender Steilheit, solche liegen nur oberhalb, möglich wäre also nur eine Fernauslösung. Die Triebschneeablagerungen sind aber meterdick und mit dieser extrem tragfähigen Eisschicht überzogen: ich bin mir ziemlich sicher, dass man diesen Hang nicht auslösen kann. Ein kleiner, wenn auch kaum gültiger Beweis, mögen die Spuren meiner Vorgänger hier sein.Dazu kommt, dass wir den ganzen Tag über kein einziges Anzeichen für Instabilitäten entdeckt haben. Die Eisschicht war tragfähig, es gab keine Schwingungen, keine Geräusche, nichts dergleichen. Es waren nirgendwo Schneebretter zu sehen, nicht einmal ältere, keine der typischen Reaktionen des Untergrunds. Es kommt noch ein letzter Aspekt dazu: die wirklich gefährliche Passage ist nur vielleicht zwanzig oder dreißig Meter lang, am Boden eines Einschnitts unterhalb. Wenn ich zügig dort hineinfahre, erreiche ich schon nach wenigen Sekunden die sichere weite eben Fläche auf der Flanke dahinter.
So stoße ich mit den Stöcken hab, die Ski gewinnen an Fahrt, einige dennoch bange Sekunden, dann liegt die Schlüsselstelle hinter mir. Im Grätschschritt erklimme ich die letzten Meter der weiten Flanke jenseits, dann raste ich eine Sekunde. Etwa hundert Meter oberhalb sehe ich die Bergstation der Seilbahn von Sinaia, es ist sechs Uhr und beinahe völlig dunkel mittlerweile. Es ist klar, dass ich dort heute nicht mehr hinauf komme. Auch weiß ich nicht einmal, ob Kris wirklich dort oben wartet oder angesichts der nahen Dunkelheit vielleicht ebenfalls schon auf dem Weg nach unten ist. Ich habe ein ziemlich schlechtes Gewissen, dass ich den anderen Weg gegangen bin, aber das hilft mir jetzt auch nicht weiter. Es gibt nur einen Weg: so schnell wie möglich ins Tal abzufahren! Entweder wartet er bereits am Hotel, oder ich kann ihn von dort aus wenigstens anrufen.
So stürze ich mich in die steile Rinne vor mir, die als äußerste der schwarzen Routen von der Cota 2000 hinab führt. Was habe ich diesen Berg unterschätzt! Die Ostflanke bietet Routen, die so steil sind, dass sie mehr als alpin wirken, Pistenraupen kommen niemals hierher. Der Schnee ist immer noch höchst gefährlich, denn das Eis ist kaum weniger geworden. Ich wundere mich noch, dass kaum Spuren in der markierten Route sind – noch weiß ich nichts von der tagelangen Sperrung –, doch kommt mir das jetzt auch zu Gute, denn die wenigen vereisten Spuren, im Halbdunkel erst im letzten Moment, sind tückisch. Ds Gelände und die Steilheit beherrsche ich, mit den Stahlkanten im Eis fühle ich mich weit mehr in meinem Terrain als die ganzen letzten Minuten, die wie eine kleine Ewigkeit auf mich gewirkt haben. Doch darf all das über eines nicht hinwegtäuschen: ein Sturz hier in der steilen Eisrinne wäre tödlich!
So sehe ich zu, dass ich diese bei der ersten Gelegenheit nach Norden verlasse, bald quere ich die kuppelbare Vierersesselbahn, je weiter ich nach Norden komme, weg von den gefährlichen Hängen hinter mir, desto flacher wird das Gelände, auch wenn selbst hier die Routen auch nach alpinen Maßstäben zurecht schwarz markiert sind. Auch habe ich Sorge, dass ich den Abzweig zur Cota 1400 verpassen könnte, die ich mittlerweile einige hundert Meter unter mir sehe: eine Insel inmitten der unwegsamen Täler links und rechts. So fahre ich einen weiteren, mit Sträuchern bewachsenen Steilhang in der Falllinie hinab. Das erste mal seit langem fühle ich mich sicherer: der Hang läuft hundert Meter tiefer aus, das Unterholz könnte mich im Fall der Fälle halten.
Doch komme ich problemlos hinab, nach einer knappen Minute erreiche ich das flache Terrain und einen Ziehweg, der zurück nach Süden in Richtung Cota 1400 führt. Ich folge der Piste, an einer Engstelle begegne ich einer Pistenraupe, die so dicht an mir vorbeidonnert, dass ich von der Traverse in den darunterliegenden ausweichen muss. Die Abfahrt ist immer noch tückisch, ich kann kaum noch etwas erkennen und es gibt Buckel, Eisplatten, Steine und sonstige Hindernisse. Dann, endlich: die Lichter der Cota 1400m vor mir, die Bergstation des alten Schleppliftes rauscht vorbei, die letzten Meter schwinge ich hinab.
Als ich in den Ziehweg knapp oberhalb der Mittelstation einbiege, der die letzten 30m zurück zu unserem Hotel führt, höre ich ein aggressives Kläffen direkt hinter mir: drei große Hunde kommen auf mich zu gerannt. Verdammt! Mit Hunden hier ist nicht zu spaßen, Kris nennt sie „rumänische Alarmanlage“ und wir hatten schon sehr unschöne Erfahrungen am Abend zuvor damit gemacht. Ich schiebe mit den Stöcken so schnell ich kann, höre wie das Bellen hinter mir näher kommt, plötzlich schießt links von ein vierter Hund aus dem Gebüsch hervor, knapp hinter mir nimmt er die Verfolgung auf. Die Hunde sind wenige Meter hinter mir, ich habe fast das Gefühl, das macht ihnen Spaß und ihr Jagdinstinkt ist geweckt! Ich drehe mich um und brülle die Hunde an: das wirkt! Sie verstummen und bleiben stehen.
Kaum dass ich ich wieder nach vorn schaue, vernehme ich von dort ein leises bedrohliches Knurren: zwei große Wachhunde stehe etwa zehn Meter weiter auf dem Weg. Ich merke sofort, dass diese sich anders verhalten, ruhiger, aber wesentlich bedrohlicher. Ich schwinge zur Seite und in den Hang rechts von mir, von dem ich im Dunkeln kaum noch etwas sehe kann, zehn Meter unter mir liegt der Parkplatz des Hotels. Ich erreiche die Treppe, ohne dass mir die anderen Hunde gefolgt wären. Ich schnalle ab und will hinunter gehen, da sehe ich einen weiteren Hund am Fuße der Treppe, der mich anstarrt. Verdammter Mist, ich muss dort runter, denn sonst gibt es nur die Mauer, die zum Parkplatz hin zwei Meter senkrecht abfällt. Dabei muss ich aber direkt den Eingangsbereich des Restaurants passieren, zu dem dieser Hund gehört, das wird kritisch. Im Restaurant sehe ich eine Frau, ich bedeute ihr, auf den Hund zu achten. Sie schaut etwas verwundert, kommt aber dann heraus und geht zu dem Tier. Ich komme die Treppe herunter, freudig bellt der Hund und wedelt mit dem Schwanz: es ist ein Hütehund!
Ich lege die Ski auf den Parkplatz und gehe sofort in das Hotel. Meine Knie sind weich, die Anstrengung, die Anspannung dort oben, die letzte Episode mit den Hunden, ich komme an meine Grenzen. Ich frage an der Rezeption nach Kris. „He isn’t here, but he called and asked for you.“. Oh Gott, das darf nicht wahr sein, fast war ich sicher, dass er schon abgefahren ware. „Ok. When did he call?“. – „Ten past six.“. Gut, das war vor fünf Minuten. „Do you have a number, I need to call him urgently back!”. Die Dame an der Rezeption sucht ein wenig, “No, there is no number.” – Verdammt! Also gibt es nur eine Chance, mein Mobiltelephon! Blöd nur, dass ich es mangels Benutzbarkeit auf dem Zimmer gelassen habe und Kris den Schlüssel hat. „Ok, I need to get access to our room immediately, I need to call my friend and my mobile is in there.“.
Es dauert gute zehn Minuten, bis sich endlich jemand findet, der das Zimmer öffnen kann, ich schalte mein Telephon an und – welch Wunder – zum ersten mal seit Tagen funktioniert es! Ich wähle Kris‘ Nummer, es ist mittlerweile zwanzig nach sechs. „Hey, ich bin am Hotel unten, wo bist Du?“ – „Ich bin an der Bergstation. Ok, dann komm ich jetzt runter…“. Er klingt müde, aber doch erleichtert. „Ok, pass an der Talstation auf, hier gibt es einen Haufen ziemlich aggressive Hunde, die auf der Piste rumlaufen…“.
Ich warte draußen in Dunkelheit, lasse die heutigen Stunden Revue passieren… mein Körper zittert, ich spüre die Erschöpfung wie ein nahendes Fieber, vor allem aber wird mir klar, wie unschön dieser letzte Abschnitt dort oben war. Ich bin erschrocken, ich hätte nicht gedacht, dass ich es schaffen würde, mich in so eine Situation zu manoeuvrieren, einfach nur, weil ich nicht aufgepasst und nachgedacht habe, zu blind vertrauend auf das, was mir gesagt wurde… Gelbe Schilder, schwarz-gelbe Schilder, Hauptroute und Alternative … wie leicht so eine Verwechslung auf Seiten eines Fremden für einen selbst fatal sein kann… doch nicht das ist es, was mich zu unruhig macht. Es ist die Tatsache, dass mir langsam klar wird, wieviel Glück ich gehabt habe dort oben.
Und so bin ich sehr schweigsam und nachdenklich, als mir das Bellen in der Finsternis gegen sieben Uhr zeigt, dass auch Kris den Parkplatz, an dessen Ende ich warte, erreich hat….