... here she comes, beauty plays the clown, here she comes, surreal in her crown...
::: Wostok - [ Salyut VI ] ::: Belgrad, 21. August 2009
Ein erster Schimmer ziert den Horizont, als wir Novi Sad mit seinen düsteren Raffinierien erreichen, deren rauchende Silhouetten noch aus der Kriegsberichterstattung in Erinnerung sind. Ich drifte immer wieder fort in einen leichten, unruhigen Schlaf, später – der Morgen ist nun heller – passieren wir die Vororte Belgrads. Das Morgenlicht in seinen warmen Farben steht in einem bizarren Kontrast zu dem, was vor den Fenstern vorbeizieht: eine düstere Utopie, Relikte einer verblassten Parallelwelt, in ihrem menschenfeindlichen Antlitz Karikatur der sozialen Vision, für die diese einst stand. Ironisch verklärt beginnt der Begriff der sogenannten „Zweiten Welt“ - längst aus dem allgemeinen Sprachgebrauch entschwunden - auf eine neue, zynische Art und Weise hier eine alternative Sinngebung zu erfahren. Düster ragen die grauen Betontürme in den Morgen, Monumente jener Hauptstadt, die längst ihren einstigen Glanz verlor, der doch nie einer war, boomend und verfallend, geflutet von Flüchtlingen - Serben aus den „verlorenen“ Gebieten - enthaupteter Kopf eines Rumpfstaates, nationalistisch, unterschwellig mitunter noch heute fast faschistisch anmutend, der alten nationalen Größe nachtrauernd, der Ort, an dem die letzten großen Völkermorde Europas geplant und gesteuert wurden. Ein einziger Blick aus dem Fenster genügt, um zu begreifen, dass dies eine andere Welt als das uns bekannte Europa ist, „ja“, denke ich zynisch, „nun denn: willkommen in Salò!“.
Dystopia...
Die Parallelen zu Pasolinis einhundertundzwanzig Tagen sind frappierend und verstörend gleichermaßen, wenn man an die jüngere Geschichte Serbiens denkt, zum Glück bleibe ich nicht einmal einhundertzwanzig Stunden... Belgrad soll nur eine kurze Durchgangsstation sein auf meinem weiteren Weg nach Sarajevo und Tirana, von wo aus ich weiter nach Sofia will, sofern sich das organisieren lässt.
Bevor ich mich um die Weiterreise kümmere, werfe ich erstmal einen kurzen Blick auf die Straße vor dem Bahnhof. Der Kontrast zu Budapest wenige Stunden zuvor könnte größer kaum sein: überall schielt einem das menschenfeindliche Gesicht der sozialistischen Ära entgegen, urbane Betonwüste, die so sehr die kalte formale Sprache der Apparatschiks spricht, dass sie keinen Raum für Liebliches oder Individualität lässt. Doch wenn der Mensch seiner Emotion und subjektiv-individuellen Ausprägung beraubt ist, wird er denklogisch Objekt – und nichts anderes spricht aus jeder Platte des vom Abgas verrußten, verrotteten, zerrissenen Betons. Der Dreck, der Verfall der letzten 20 Jahre, die Kriegsschäden, eine durch Flüchtlingszuzug explodierende Bevölkerung mit einer omnipräsenten Armut, sie lassen aus den bekannten sozialistischen Monumenten jene Endzeitkulisse entstehen, die diese so verstörend entrückte Athmosphäre hier erschafft: selbst in diesen Morgenstunden ist Belgrad eine düstere Stadt, bedrohlich irgendwie, kaum greifbar, aber in diesem Extrem auch beinahe wieder faszinierend.
In diesem Moment wankt eine alte Frau auf mich zu – eine Sinti oder Roma -, voller Schmutz, in Lumpen, ein Arm ist verkrüppelt, das Gesicht seltsam entstellter, beinahe nicht-menschlicher Züge. Sie stürzt und liegt, von den wenigen Passanten unbeachtet, auf dem Gehweg, auch mich kostet es eine Sekunde bis ich mich überwunden habe, sie anzufassen, um ihr aufzuhelfen. Diese Sekunde trifft mich, dennoch zeigt sie einfach nur, dass dies hier eine Welt ist, die verlangt sich Realitäten zu stellen, die den Lichterkettendemonstrationen der deutschen Großstädte sehr fern, ungleich schwieriger sind. Ich denke an Anna – eine Freundin von mir – und ihre Monate in Indien...
Die Geschichte lässt ein Land nicht einfach los, verlischt nicht einfach mit dem Blick nach vorn, mögen jene zwölf goldenen Sterne in den letzten Jahren auch einige wenige Millimeter näher herangerückt sein. Man spürt es in jedem Augenblick, wenn man sich zwischen den Menschen bewegt, es ist stets präsent, nicht wirklich greifbar, aber fühlbar. Wie in jedem Land gibt es unterschiedliche Strömungen und Geister, nicht jeder mag des nachts vom alten Großserbien träumen, aber man spürt etwas, ganz deutlich, es begleitet einen auf Schritt und Tritt. Vielleicht ein wenig dasselbe Gefühl wie tief im deutschen Osten, nur fremder. Auch wenn man ihn nicht sieht, man spürt die Präsenz dieses Geistes, nimmt unterschwellig Feindseeligkeit wahr, die Spannung um einen herum, die zur Vorsicht mahnt.
Das Graffiti 'Tadić Juda' meint den serbischen Präsidenten, der einer eher liberalen Strömung zuzuordnen ist, und kann als "Tadić, Jude", uU auch als "Tadić, Judas" übersetzt werden. Es ist eines von hunderten Zeichen der rechts-extremen Szene, die sich überall in der Stadt finden.
Hier ist es der Argwohn, den man spürt, das Gefühl, Fremdkörper zu sein und als solcher zu gelten. Als Deutscher hat man in Serbien ohnehin einen ziemlichen schlechten Stand, unvergessen ist, dass Deutschland als einer der ersten Staaten überhaupt, noch während des Krieges, Kroatiens Souveränität anerkannte und damit einen wesentlichen Beitrag zu dessen Unabhängigkeit leistete. Noch viel weniger vergessen ist die deutsche Rolle im Kosovokonflikt, die öffentliche Kritik an unzähligen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche es im öffentlichen serbischen Bewusstsein nie gegeben hat, die schnelle Anerkennung der neuen Republik Kosovo letztes Jahr und die deutsche Vorreiterrolle beim Aufbau des Landes. Wenige Monate ist es her, dass die deutsche Botschaft in Belgrad bei Ausschreitungen angegriffen wurde. All das ist präsent, Serbien ist ein Land, in dem Vorsicht geboten ist, das spürt man auf jedem Meter. Auch hinterlassen Kriege mehr Spuren als nur die weit sichtbaren Ruinen zerschossener Gebäude. Sie verändern die Menschen, zeichnen sie. Die Menge noch heute in Serbien vorhandener illegaler Schusswaffen beträgt mehrere hunderttausend bei siebeneinhalb Millionen Einwohnern, die Hemmschwelle zu deren Einsatz sei niedrig, warnt das deutsche Auswärtige Amt.
Nun bin ich also hier, in jenem Land, das vor einem guten Jahrzehnt so viele Parallelen zum deutschen Faschismus des Dritten Reiches zeigte. All das mutet seltsam an, bedenkt man das Serbien ein europäisches Land, dass sich in der jüngsten Vergangenheit auch verstärkt um eine Annäherung an die europäische Union bemüht. Es ist nicht Afghanistan oder der Iran, nicht Ruanda oder Kongo, keine der Bananenrepubliken Südamerikas. Aber ein solcher Staat, der nur wenige hundert Kilometer von Budapest und Wien entfernt ist, ein paar Stunden von der Adria, den italienischen Küsten? Es ist aus der Ferne schwer, all das, was die jüngere Geschichte dieses Landes zeichnet, auch tatsächlich zu realisieren, es sich bewusst zu machen, die Stimmung in diesem Land zu erfassen. Selbst wenn ich sehr wohl eine gute Vorstellung davon hatte, was mich erwarten würde in einer Stadt, in der ein Drittel der Bevölkerung die serbisch-radikale Partei (die heißt tatsächlich so!) gewählt hat, welche damit - und nur sehr knapp hinter der pro-europäischen Partei - zweitstärkste Kraft geworden ist: es ist noch einmal anders, wirklich hier zu sein. Ich bewege mich wachsam, die Instinkte sind irgendwie schärfer. Serbien scheint einen Kontinent weit entfernt von Europa zu sein – umso verstörender erneut der Gedanke, dass eigentlich dasselbe für jene Orte gelten muss, in denen wenige hundert Kilometer von der eigenen Heimatstadt entfernt Schlägertrupps mit SS-Insignien Türken und Punks durch Innenstädte jagen... .
Bahnhof in Belgrad.
Ich versuche am Bahnhof meine Weiterreise zu organisieren. Schnell merke ich, dass ich auch diesbezüglich den Balkan immer noch unterschätzt habe. Es beginnt damit, dass nicht nur die aufgeschlossene Aufbruchstimmung der anderen ehemaligen Ostblockstaaten fehlt – wer sich in Serbien als nicht-serbisch-sprechender Fremder zu erkennen gibt, findet häufig ablehnendere Reaktionen als die interessierte Offenherzigkeit perfekt englisch sprechender junger Ungarn, Slowaken, Tschechen oder Polen -, es ist auch schlichtweg nicht möglich, einfach so den Balkan zu bereisen. Es gibt wie überall in den osteuropäischen Staaten neben dem Schienennetz vor allen Dingen diverse Linienbusse zu allen kleinen und mittelgroßen Städten, die mehrfach am Tag fahren und oft günstiger und schneller, und nicht selten auch komfortabler als die Züge sind. Aber von hier aus fahren sie schlichtweg nicht nach Bosnien, oder gar in Richtung Süden, in das Kosovo oder nach Albanien, diese Länder scheinen nicht zu existieren. Nach Sarajevo kommt man nur umständlich über Kroatien, die Reise dauert 22 Stunden. Überflüssig zu erwähnen, dass die Angestellte am Bahnhof ziemlich kühl auf die Frage nach einer derartigen Verbindung reagiert hat. Ich fühle mich an meine Israelreisen erinnert und die Situationen, in denen ich an Busbahnhöfen nach Verbindungen zu Städten wie Nablus oder Ramallah im Westjordanland gefragt hatte. Auf die Frage nach Tirana schleudert sie mir schließlich nur ein eisiges „No way!“ entgegen - ich widerstehe dem zynischen Gedanken nach Tagesausflügen nach Srebenica zu fragen...
Es ist eine alte Regel des Rucksackreisens, dass man nirgendwo hinfährt, wenn man sich nicht vorher genau im klaren darüber ist, wie man von dort wieder wegkommt: Die Gefahr irgendwo zu stranden ist erheblich! Nachdem ich einen Eindruck davon bekommen habe, wie schwer es tatsächlich ist, den Balkan ohne eigenes Auto zu bereisen, lassen ich den Plan nach Sarajevo zu fahren, schließlich fallen. Ich bin übermorgen in Sofia verabredet, das Risiko irgendwo im Südbalkan hängen zu bleiben ist einfach zu hoch. Und doch hätte ich so gerne Sarajevo gesehen...
Sarajevo – der Name ruft Bilder in das Gedächtnis zurück, unfassbar damals, vor fünfzehn Jahren, vom restlichen Europa bereits heute schon wieder weitestgehend vergessen wie es scheint, der Balkan bleibt das andere Europa, irgendwo da draußen, die vom Feuer schwarzen Fassaden der Hochhäuser, die „Snyper-Alley“, in der Menschen zum Jagdwild serbischer Heckenschützen wurden, die monatelange Einkesselung, Hunger, Frost und Tod. Bosnien – wieder Konzentrationslager, wieder ethnische Säuberungen, 50 Jahre danach... und wir haben zugeschaut, sehr lange jedenfalls. Ich erinnere mich nur verschwommen, ich war elf als alles begann, erst der kurze Krieg in Slowenien, dann der Kroatienkrieg und ab 1992 der Bosnienkrieg – der schlimmste der drei. Massenvergewaltigung als Kriegswaffe, Mittel des Völkermords, der Zerstörung des Volkes der Bosniaken, Massaker und Massenerschießungen, Selektion und Rassismus, wieder hier in Europa, die Bilder in den Nachrichten jeden abend, irgendwann gleichgültiger, immer verwirrender die Zusammenhänge, kein Eingreifen. Dabei hatte Jugoslawien als eines der offensten, fortschrittlichsten der sozialistischen Länder gegolten, Titos sogenannter 3. Weg, die neutrale Position, eigentlich hätte das Land als eines der ersten seinen Weg in die Staatengemeinschaft Westeuropas finden sollen. Und doch ist es heute kaum vorstellbar, dass es einst das weltoffenste und „westlichste“ unter den sozialistischen Staaten war.
So hallen heute stattdessen die Namen Mladić und Karadžić, Foča und Srebenica nach. Ich habe die komplexen Zusammenhänge, Hintergründe und Abläufe dieses Krieges erst Jahre später wirklich verstanden, an die Bilder, die ich als Kind und Jugendlicher sah, erinnere ich mich aber noch deutlich, vor allem jenen Moment in dem Filmausschnitt aus „Miss Sarajevo“, der Teil des Videos des gleichnamigen Stücks von U2 und Luciano Pavarotti wurde, als die Mädchen auf der Bühne des Schönheitswettbewerbs das Transparent „Don't let them kill us“ in die Höhe halten. Schon damals beschäftigte mich jene Ambivalenz des kommerzialisierten kollektiven Mitleids im Angesicht des Nichts-Tuns, die Perfidität der sich hier subtil äußernden Tatsache, dass 19jährige in Badeanzügen auf einer Bühne die Zuschauer mehr zu berühren scheinen als die Bilder der blutigen Leichen in den Kuhlen der Massengräber, während gleichzeitig dieses Stück tatsächlich und zu recht bewegt. Heute scheint all das schon bereits wieder eine andere Zeit zu sein, der Krieg ist vorbei, andere Greuel und internationaler Terrorimus flashen im Sekundentakt durch die News, die zerrissenen, zerstörten, vertriebenen Familien, die durch Krieg und Minen Verstümmelten, die traumatisierten Frauen und Mädchen, ihre Kinder, die nie erfahren sollen, wer die eigentlichen Väter sind, all das scheint im Europa des 21. Jahrhunderts störend und fehl am Platze, wo sich die Abschlüsse der römischen Verträge gerade zum fünfzigsten mal jährten. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum ich Sarajevo selbst, mit meinen eigenen Augen sehen wollte...
So bin ich also in Belgrad gestrandet, die Sonne steigt am Himmel, langsam beginnt die Luft unerträglich schwül zu werden. Ich überlege und überlege, wie mein nächster Schritt aussehen wird. Eigentlich wollte ich nur ein paar Stunden hier bleiben, jetzt habe ich das Problem, dass die verbleibenden heute noch abgehenden Züge mich zu unmöglichen Zeiten irgendwo ankommen lassen, ich will nicht kurz vor Mitternacht im Dunkeln in irgendeiner Südbalkanstadt ankommen, ohne auch nur zu wissen, wie es dort aussieht oder wo ich übernachte. Auch brauche ich dringend ein Hotelzimmer, die ewig schlaflosen Nächste hinterlassen ihre Spuren in Erschöpfung, ich würde so gerne ein paar Stunden ruhen, den schweren Rucksack nicht tragen und ständig im Auge behalten müssen, mich waschen und die Kleidung, die ich seit Wien trage, wechseln. Aber in Belgrad übernachten will ich auch nicht, weder möchte ich so lange in dieser Stadt bleiben, noch den gesamten morgigen Tag in einem Zug verbringen – und außerdem hätte ich morgen kaum eine Chance, sinnvoll weiter zu reisen, da ich dann aus Zeitgründen eigentlich nur noch direkt nach Sofia fahren könnte, wo ich dann allerdings wiederum einen Tag zu früh ankäme.
Die Sonne steigt weiter, die Betonwüste fängt an zu glühen, das schlimmste aber ist der Smog. Die Stadt erstickt in den Abgasen, ich kann mich nicht erinnern, dies schon einmal so schlimm erlebt zu haben. Die Luft brennt in der Lunge vom Geruch des verbrannten Diesels, ich merke, wie kurzatmig ich werde, beginne nach Atem zu ringen. Auch versinkt die Stadt mit dem nahen mittag zunehmend im Verkehrschaos, man kann kaum die Straße queren, ohne beinahe überfahren zu werden. Anders als in Süditalien, wo es auf den ersten Blick ähnlich zuzugehen scheint, Autofahrer aber damit rechnen, dass man vierspurige Straßen quert und dies völlig akzeptiert ist und funktioniert, hat man hier das Gefühl, dass man in Sekunden zwischen den unzähligen LKW und Bussen verloren ist, dass die Autos geradewegs auf einen zuhalten, damit man endlich von der Straße verschwindet.
Verdammt, was mache ich eigentlich in dieser Sch...-Stadt!! Und ich brauche irgendeinen Plan! Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Ich brauche ein Zimmer, will aber hier nicht übernachten, ich will weiterreisen, komme aber nicht weg ohne nachts im Nichts zu landen oder muss einen weiteren Nachtzug oder -bus nehmen, dann wiederum habe ich wieder kein Zimmer – und zudem fällt mir kein Ziel ein, von dem ich sicher bin, von dort aus im Laufe des morgigen Tages weiter nach Sofia zu gelangen. Ich suche Zuflucht in einem Internetcafé am Bahnhof, die beiden jungen Serben dort sind recht nett und hilfsbereit, das beflügelt meine Lebensgeister ein wenig. Neben ein wenig Kontakt in die Heimat, der Euch unter anderem den Bericht aus Oberschlesien beschert, kann ich auch endlich auf maps.google ein bisschen einen Überblick gewinnen und weiter planen (eigentlich habe ich genau aus diesem Grund bei meinen Rucksackreisen immer Straßenkarten dabei, um Entfernungen und mögliche Routen und Alternativen abzuschätzen).
So klärt sich langsam vor meinem geistigen Auge mein weiterer Weg: Skopje – das ist Lösung! Die Hauptstadt von Mazedonien interessiert mich sehr, auch liegt sie strategisch günstig: weder muss ich Sorge haben, von hieraus morgen Sofia nicht zu erreichen noch hätte ich Bedenken in dieser relativ „westlichen“ Stadt in einem Land, das spätestens seit dem deutschen Einsatz an der Grenze zum Kosovo dem unseren gegenüber als sehr aufgeschlossen gegenüber gilt, zu übernachten.
Mit diesem Ziel vor Augen nun wieder inspirierter kann ich auch mein nächstes Problem lösen: ich handele mit dem Wirt eines einfachen, aber anständigen Hotels gegenüber des Bahnhofs aus, dass ich ein Zimmer für den Nachmittag haben und anschließend für den Abend mein Gepäck dort lassen kann, und zwar für ein Drittel des eigentlichen Preises. So kann ich als nächstes eine Fahrkarte für den Nachtbus nach Skopje organisieren, dann duschen, mich umziehen, etwas essen und mich vor allem einmal einfach hinlegen und ausruhen.
Am späten Nachmittag steht die Sonne tiefer, das Licht ist weniger grell, der Hexenkessel aus Staub und Smog ist erträglicher geworden. Ich mache mich mit der Kamera auf den Weg, diese Stadt in Optiken zu bannen. Ich steige durch die Betonschluchten, die immer noch eine enorme Hitze ausstrahlen, den Hügel hinauf, in Richtung des Zentrums. Licht und Schatten der Abendsonne lassen die Stadt umso Wild-West-mäßiger wirken, intensivieren jene eingangs beschriebene Endzeitstimmung. Auf meinem Weg passiere ich einen riesigen alten Beton-Kubus, lange schon aufgegeben: ein verlassenes Einkaufszentrum aus den frühen 70er Jahren.
Überhaupt wirkt das gesamte Stadtzentrum wie ein Zeitfenster in jene Epoche der 70er Jahre des Ostblocks. Es ist untertunnelt mit schier endlos verwinkelten Labyrinthen aus Ladenpassagen und Verbindungsgängen, bei denen man am Ende nie wirklich weiß, in welche Richtung man sich gerade bewegt, in welcher Straße einen die noch heute grell orange lackierten Rolltreppen am Ende das Tageslicht wieder erblicken lassen. Die Betonkolosse mit ihren rostigen stählernen Aufbauten für Tafeln und Sendemasten, reflektieren düster das durch den Dreck der Luft verfärbte Abendlicht, blutroter Oktober. Ich durchwandere die dystopischen Visionen dieser futuristischen Vergangenheit und belichte.
In dieser Umgebung wirken selbst die drastischen Zeichen westlichen Konsums wie Relikte des Sozialismus: das auf dem Dach aufständerte McDonalds Logo und vor allem das völlig verrußte Banner Lacostes.
'Dom Omladine Beograda' von 1964 - aber offensichtlich erneuert.
Neues Belgrad...
'Solyent Green is people!'
Den Abend verbringe ich in einem Café an der Hauptstraße, Belgrad zeigt zusehends noch mal ein völlig anderes Gesicht. Wie in vielen südlichen Städten beginnt mit der Dämmerung sich das Stadtbild zu wandeln, die düsteren Fassaden werden unsichtbar und im Licht der Strahler beginnt die Stadt aufzuleben. Die Menschen strömen auf die Straßen und es sind andere nun, eine junge, wohlhabende Generation – auch in Serbien gibt es diese eklatanten Gräben zwischen Armut und neuem Reichtum mit wenig Raum dazwischen, wie in vielen anderen osteuropäischen Metropolen auch. Die Belgrader Jugend, vor allem die feminine, ist chique – wenn auch stilistisch vielleicht zu sehr am Markengeschehen orientiert.
Interessant auch, dass vermutlich 70 – 80% der Mädchen, die an diesem Abend hier über die ehemals sozialistischen Boulevards flanieren, in Deutschland wahrscheinlich ohne größe Probleme einen Job als Model finden könnten. Sie sind allesamt sportlich und sehr schlank, sehr modebewusst und die meisten auch von in etwa meiner Größe, also um die 1,80m. Mir persönlich ist all das vielleicht ein wenig zu artificiell, aber es zeigt schon, dass das Selbstverständnis hier ein anderes ist. Stilistisch mag dies mit meinen Ansichten eher divergieren, aber die Tatsache, dass es ein solches Bewusstsein des äußerlichen Auftretens überhaupt gibt, liegt mir weit mehr als die typisch deutsche Achtlosigkeit, die nie die meine war...
Seltsam wiederum sind die Kerle, viele tragen den US-Marine-Corps Schnitt mit kurz rasiertem Schädel und der so typischen umlaufenden Kante auf halber Höhe, Muskelshirts, man könnte meinen, die Wurzeln dessen seien irgendwo zwischen Vorstadt-Gangster und Paramillitär anzusiedeln. Auch ingesamt finde ich – und ich weiß, dass man hier schnell den eigenen Vorurteilen unterliegt -, dass etwas grimmiges in all dem liegt (teils auch bei den Mädchen), ich kann nicht jedenfalls nicht sagen, dass selbst in diesen lauen Stunden eines Freitagabends die Athmosphäre entspannt oder angenehm wäre.
Einzig in der ganz jungen Generation der Oberstufenschüler meint man einen Bruch zu sehen, da gibt es Jungs mit längeren Haaren und gerissenen Jeans, Mädels in Blumenkleidern alternativeren Aussehens, auch scheint mir in diesen Grüppchen die Stimmung viel gelöster, entspannter und fröhlicher zu sein: es wird herumgealbert und gelacht. Alles in allem sind das natürlich nur sehr vage Eindrücke eines einzigen kurzen Abends und vielleicht sieht man auch viel eher das, was man erwartet, als alles andere. Aber das zumindest ist mein Gefühl heute abend... und das gibt Hoffnung!
Gegen elf gehe ich die Straßenschluchten hinab in Richtung des Bahnhofs und zu dem Hotel, in dessen Rezeption mein Rucksack steht. Ich bin sehr müde, es sind immer noch deutlich über 30° C und es ist stickig hier unten, ich setze mich auf das Sofa und warte, kurz nach Mitternacht will ich aufbrechen, um 0.45 Uhr fährt der Linienbus nach Skopje. Neben mir steht die Tür zu einer kleinen Spielhölle offen, etwa dreißig identische Spielautomaten geben als bizarrer Choral identische elektronische Melodien und Töne von sich, jedoch alle zeitlich versetzt, so dass eine sich ständig wandelnde und gleichermaßen in sich identische fraktale Kakophonie entsteht, surreal die von den blinkenden Lichtern der Automaten geisterhaft erleuchteten versteinerten Gesichter der Spieler untermalend.
Einmal mehr fühle ich mich unglaublich fremd in dieser Welt, ich beginne ein Gespräch mit dem Wirt an der Rezeption. Wir sprechen über Serbien, den Krieg, das Verhältnis jener Länder heute zu einander, Kommunismus und Gegenwart. Er ist einer der wenigen mir gegenüber aufgeschlossenen Menschen, die ich hier kennen gelernt habe, er erzählt, einerseits froh zu sein, dass die sozialistische Ära vorbei ist, andererseits von einem Belgrad, das heute in vielerlei Hinsicht nicht mehr die Stadt ist, in der er aufgewuchs. Vor allem den Flüchtlingszuzug der letzten Jahre habe sie nicht verkraftet, dann der allgegenwärtige Verfall... . Und das restliche Jugoslawien? „Ich bin seit meiner Jugend nicht mehr in Kroatien gewesen...“, und es klingt, als würde sich das auch sobald nicht mehr ändern..., „in Bosnien aber schon, die Menschen dort sind in Ordnung – und sie haben mich anständig behandelt.“. Ob es der serbische Teil Bosniens, was ich fast vermuten möchte, oder der bosniakische war, habe ich nicht gefragt, auch das Kosovo lasse ich unerwähnt. In meinem Portemonnaie habe ich eine seltsame Münze gefunden, ich wollte sie schon wegwerfen, weil ich dachte, jemand habe sie mir fälschlicherweise als Wechselgeld herausgegeben. Ich zeige sie ihm. „Das ist der Jeton, mit dem Du auf den Busbahnhof kommst.“ Oh, und warum zur Hölle hat mir das dort eigentlich niemand gesagt?
Kurz nach Mitternacht gehe ein letztes mal über die große Straße vor dem Bahnhof Belgrads, durch die immer noch dröhnend der Verkehr pulsiert und Abgas in die Luft bläst. Der nächtliche Busbahnhof ist voll seltsamer Gestalten, nicht nur die Touristen habe ich schon lange hinter mir zurück gelassen, ich treffe auf den unteren Rand einer Arbeiterschicht, der es selbst hier auf dem Balkan für ein eigenes Auto nicht reicht. Um kurz vor eins trifft der Bus aus Novi Sad auf dem Bahnhof ein, schnell wird eingeladen, unter meinen Mitreisenden bin ich jetzt wirklich einziger Fremder, das spüre ich. Die Lichter Belgrads ziehen vorbei, verschimmen, die Erinnerung verlischt...
_________________ ... the echo of a distant time ...
Faszinierend beklemmend, hochinteressant. Wie immer, fesselnd berichtet. Sowohl photographisch, als auch textlich gesehen. Eine Stadt, in der Endzeitstimmungen wie in der verlassenen Baukomplexen und das pulsierende Leben in vielen Facetten zusammenzutreffen und eine düstere Stimmung zu generieren scheinen. Bei einigen Aufnahmen kommt fast eine Atmosphäre wie in "Der Omega Mann" oder eben "Soylent Green" herüber. Letzterer ist übrigens einer der beklemmendsten Filme, die ich kenne.
Sarajevo wäre sicher extremstens interessant gewesen. Ich erinnere mich noch, wie wir 1984 die olympischen Spiele in am Fernseher verfolgten. Für mich als Kind war das damals irgendwie ein Zeichen, dass die Zeiten dort besser werden. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wie verschieden sich die Völker dort offenbar fühlten, welches Konfliktpotential dort eigentlich schlummerte, da Vieles auch durch die damaligen kommunistischen Diktaturen bis dahin unterworfen wurde.
Hochinteressant jedenfalls, auch wenn es für Dich sicher auch uinangnehme Seiten gehabt haben wird. Es relativiert auch gerade wieder etwas meine persönlche Wahrnehmung der Probleme, die es hierzulande so gibt.
Hvala, bilo je stvarno zanimljivo... i također vrsta tužno.
Nun ja. Die Bilder sprechen sicherlich für sich; nur geht von dem Ganzen echt ne Magie aus, deren man sich auf absurde Art kaum entziehen kann. Irgendwann will ich dort hin, das ist klar. Unglaublich, wie sich Menschen, die doch alle beinahe die selbe Sprache sprechen, so lange aufs blutigste bekämpft haben, wie sie sich, die sich doch zu Zeiten der SFRJ so schlecht nicht einmal verstanden, heute zu hassen scheinen. Heute schimpfen die Kroaten auf die Serben (erstere erfinden extra neue Worte, um sich sprachlich zu distanzieren; zweitere behaupten, ersterer Sprache könne gar nicht existieren - "Hrvati, k'o vas jebe!" - ja, in dem Sprachraum wird alles gef... [übrigens ziemlich spannend, was man sich da bisweilen einfallen lässt]), die Bosniaken auf die serbischen Bosnier, und die letzteren verloren die Distanz zu ihrem so nahe gelegenen Mutterland wohl kaum.
Das dort unten ist wohl die interessanteste Ecke Europas. Und die traurigste.
Trinc, hast Du keine "Naš Tito"-Grafitti entdeckt?
Es wäre mal interessant zu wissen, wie sich die Volksgruppen bzw. Völker dort zu kommunistischen Zeiten tatsächlich gegenseitig wahrgenommen haben. Immerhin lässt sich vermuten, dass diese Konfliktpotentiale auch durch das damalige System und das Staatsdiktat im Laufe der Zeit geschürt wurden, da den Menschen unter der Diktatur ihre Autonomie genommen wurde. Ich halte es durchaus für möglich, dass es nicht soweit gekommen wäre, wenn sich die Völker früher selbständg hätten entwickeln und vielleicht später irgendwann freiwillig annähern können. Schlimm ist nun sicher, dass wie oben bereits erwähnt, die Menschen einfach verändert. Er hinterlässt Wunden, die lange bleiben.
Auch wenn ich in den ersten 2-3 Abschnitten Ausdrücke und Wörter der deutschen Sprachen gelesen habe, die ich bisher noch nie unter den Augen bekommen habe (liegt wohl am Schweizerdialekt ), habe ich während dem Lesen des Berichts nichtmal bemerkt wie die Zeit vergangen ist. 40, hochspannende und lehrreiche Minuten haben mir wiederum gezeigt, wie gut es uns eigentlich geht. Wie sauber und wie gut organisiert unsere Dörfer/Städte sind und vorallem wie verwöhnt wir sind. Und trotzdem sind wir oft damit nicht zufrieden....
Ich freue mich auf eine alfällige Vortsetzung der Reportage und besten Dank im Voraus!
_________________ Ils temps as müdan-ed nus cun els
Immerhin lässt sich vermuten, dass diese Konfliktpotentiale auch durch das damalige System und das Staatsdiktat im Laufe der Zeit geschürt wurden, da den Menschen unter der Diktatur ihre Autonomie genommen wurde.
Ich denke, Titos System war diesbezüglich so schlecht gar nicht: Er hatte bekanntlich lange Zeit ziemliche Unterstützung beim Volk (naja, es schien zumindest so...), unter anderem, weil - wenn ich mich da richtig erinnere - immer alle relevanten Volksgruppen in der Regierung vertreten waren und keine Nation dominieren konnte; was die Serben nach Tito dann aber irgendwie zustande brachten und so den Zerfall Jugoslawiens sicher beschleunigten.
Registriert: Di, 21.02.2006, 10:12 Beiträge: 664 Wohnort: Wien
Hochinteressant. Muss ich mir bei Zeiten auch nochmal viel genauer durchlesen.
Ja, man kann irgendwie nur "baff" zurückblicken, wenn man sich vor Augen führt was aus dem ehemaligen Jugoslawien geworden ist.
Ich war seinerzeit (1991) zufällig beim Ausbruch der ersten Schiessereien (rund um die Plivica-Seen) in der Nähe von Belgrad (Verwandtenbesuch bei verschwägerten Verwandten). Das wurde damals tendenziell alles noch als Einzelaktionen von Verrückten abgetan (wobei an der Grenze Serbien/Kroatien war es damals schon fast unheimlich, zum Glück hatten wir ja österreichische Autokennzeichen). In den Ortschaften Slawoniens hingen dann überall die Schachbrettfahnen. Wenige Monate herrschte dort dann unten brutaler Bürgerkrieg in genau diesen Gegenden Slawoniens. Beklemmend. Bei meinem Besuch wurde Tito (insbesondere von den Serben, obwohl Tito ja Kroate war) noch als grosser einigender Held präsentiert. So nach dem Motto: "Unterm Tito täts das alles nicht geben...".
Was man beim Zustand der heutigen Gesellschaft in Serbien nicht vergessen darf ist die jahrelange Isolierung (die natürlcih auch wieder so nicht stimmt, da ja aufgrund der Migration feste Beziehungen zu westl. Staaten auf Personenebene besteht) und der extremen Perspektivenlosigkeit. Auch die deutsche Gesellschaft würde wohl ziemlich pathologisch reagieren, wenn es jahrzehntelang praktisch bergab geht und jede Generation davon ausgehen muss, dass es ihr schlechter geht als die vorige.
Nicht zu vergessen auch, dass grosse Teile der Intelligentsia bereits im Exil sind und aufgrund der Flüchtlingsströme auch nach Belgrad wohl die urbane Gesellschaft auch etwas durcheinandergeworfen wurde.
Ums zynisch zu sagen scheint der Balkan seine Traditionsrolle als "Weichteil" Europas wieder perfekt zu erfüllen ...
Danke für Euer Feedback, die Worte, es ist schön, das zu hören...
@3303: Soylent Green ist auch für mich bis heute einer der beklemmendsten Filme aller Zeiten, insbesondere auch, weil beispielsweise der Treibhauseffekt in diesem Film von 1973 (!) bereits eine tragende Rolle spielt, aber auch wegen der perfekten düsteren Vision, die so real ist. Ein absolutes Schlüsselerlebnis war für mich die Szene, als der alte Mitbewohner in das Sterbeheim geht und dort während er einschläft, die unglaublich wundervollen Naturaufnahmen zu der Musik aus Per Gynt (Morgendämmerung) sieht und man nach einer Stunde dieser düsteren Utopie plötzlich denkt "Oh mein Gott, wie schön war das noch..." - und dann realisiert man eine Sekunde später, dass es ja noch existiert, dass es nur zu verhindert gilt, dass all das verschwindet...
@Piznair: also mindestens ein neues Wort habe ich beim Schreiben auch gelernt und es ist gleich eines meiner Lieblingswörter geworden: Dystopie bzw. dystopisch. Die Dystopie stellt den Gegenentwurd zur Utopie dar, zeichnet also eine düstere Zukunft, die zum Nachdenken über die Gegenwart anregen soll (vor sozialen, ökologischen, politischen Gesichtspunkten). Klassische Werke der Dystopie sind Soylent Green (eigentlich das perfekte Beispiel), der (von 3303 bereits zitierte) Omega-Mann, Brave New World, I am legend, Planet of the Apes, The Minority Report etc. (jeweils sind die originalen literarischen Werke gemeint, die oft schon über eine halbes Jahrhundert alt sind, auch wenn sie erst in den letzten Jahren verfilmt wurden; im Fall von Soylent Green ist allerding auch (und gerade) der Film d i e Dystopie schlechthin).
@Tinel: woher kennst Du Dich da unten eigentlcih so verdammt gut aus? Meinen Respekt, das ist echt beeindrucken!! Erst die Kenntnisse über die Verwendung der kursiven Zeichen in der Kyrilliza der südslawischen Sprachen, dann ein serbo-kroaticher Kommentar und auch sonst weißt Du offentsichtlich sehr viel über die ganze Ecke da unten... Beeindruckend, studierst Du irgendwan in der Richtung oder hast Du Familie irgendwo dort?
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Ich kann ja noch mal ein paar Erläuterungen anfügen, für die Dinge, die ich nur angedeutet habe.
Dystopie habe ich ja oben schon erläutert.
Das von mir zitierte Salò ist eine Stadt am Gardasee und Zentrum des faschistischen Rumpfstaates, der nach dem Sturze Mussolinis gegen Ende des Zweiten Weltkrieges verblieb. Pier Paolo Pasolini widmete ihm einen (umstrittenen, da für seine Zeit extrem brutalen) Film, "Salò o le 120 giornate di Sodoma" ("Salò oder die 120 Tage von Sodom"), der eine bizarre extrem menschenverachtende Parallelwelt in diesem faschistischen Inselstaat darstellt, die später noch einmal durch das Musikvideo "Babalon A.D. (So glad for the Madness).
Noch im Erscheinungsjahr des Filmes 1975 wurde Pasolini unter bis heute ungeklärten Umständen unter mutmaßlicher Verwicklungen der italienischen Geheimdienste (geradezu typisch für die Zeit) in Ostia bei Rom ermordet. Der Film basiert lose auf dem Buch "Die 120 Tage von Sodom" von Marquis de Sade (vielleicht nicht unbedingt ein Werk, dass man gelesen haben müsste) und nimmt auch Anleihen bei Dantes Inferno, während er durch Salò einen konkreten historischen Rahmen erhält. Wegen seiner expliziten Darstellung von Folter und Vergewaltigung ist der Film bis heute nur schwierig öffentlich zu zeigen, die Aufführung wurde etwa 2007 in der Schweiz verboten, das Verbot im Nachhinein wieder rückgängig gemacht, weil man die künstlerische Bedeutung des Filmes unterschätzt habe. Tatsächlich geht es im wesentlichen um die Faschisten als eine Art Herrenmenschen, die aus der Bevölkerung Mädchen und Jungen entführen und versklaven - und neben psychischen Erniedrigungen vergewaltigen und zu Tode foltern. Das verstörende daran ist, dass die Parallen zu den Kriegsverbrechen in den von Serben kontrollierten Gebieten im Bosnienkrieg, vor allem aber im Kosovokrieg frappierend sind. Im Prinzip sind diese nämlich nahezu identisch.
Den von mir zitierten Film Soylent Green, der im deutschen den Titel "2022... die überleben wollen" trägt, habe ich ja oben auch schon erläutert.
Das Eingangszitat stammt aus "Miss Sarajevo".
Die zitierten Namen Karadzic und Mladic sind vermutlich bekannt und bezeichnen zwei wesentliche Drahtzieher des Völkermordes in Bosnien. Beide sind später in Serbien untergetaucht, zumindest Karadzic wurde 2008 an das UN-Tribunal in Den Haag ausgeliefert. Mladic hält sich noch immer versteckt, man vermutet mit Wissen der Behörden in Serbien, die derartiges immer mal wieder angedeutet haben, ihn aber bisher noch nicht offziell verhaftet haben.
Srebenica ist der Ort des größten Massakers im Bosnienkrieg, als bosnische Serben über 6000 männliche Einwohner der Stadt unter den Augen der niederländischen Blauhelme, die nicht eingriffen, zusammen trieben und erschossen.
Foca ist der Ort, der am berüchtigsten für seine Vergewaltigungslager wurde, einige der Drahtzieher wurden jetzt in Den Haag zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Ich sprare mir hier die Details der Verbrechen, aber ich kann jedem empfehlen, mal einen Blick in die Anklageschrift zu werfen....
Titos dritter Weg bezeichnet die Sonderrolle des ehemaligen Jugoslawiens, das eben nicht zum Ostblock gehörte, sondern als sozialistischer Staat sui generis bezeichnet werden könnte. Es gab auch keinen eisernen Vorhang in diesem Sinne an der Grenze Jugoslawiens zu Österreich zB, auch wenn die Grenzkontrollen sicherlich nicht ohne waren.
Die sogenannte Snyper-Alley war eine Hauptstraße in Sarajevo, die berüchtigt dafür war, dass sie unter Beschuss serbischer Heckenschützen lag. Die in Sarajevo lebenden Bosniaken mussten die Straße manchmal benutzen, sie wurden dann von den Heckenschützen (Scharfschütze) aus umliegenden Verstecken, meist Häusern, wie Freiwild abgeschossen.
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Nun ja, vieles davon ist sicher dem einen oder anderen bekannt gewesen, aber ich wollte noch mal ein paar Hintergrundinfos geben.
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@trincerone: Danke für die netten Worte Das Slavistikstudium hab ich zugunsten von Chemie bislang beiseite gelassen; hoffe mal, ich bereue es nicht...
Näherungsweise kannst Du es so ausdrücken: Was den Deutschen die Türken, sind den Schweizern die "Jugos" (1,5% der Schweizer Staatsbürger sprechen B/K/S, 0,5% Rätoromanisch, und ja, wir irren uns nicht: Nicht ersteres, sondern letzteres ist eine Landessprache). Ich wurde quasi von klein auf - nicht im Mutterhaus, aber sonst eben - mit dem Stereotyp des "Jugo" konfrontiert, und als Kind glaubt man das eben. Später dann lernt man wundervolle Menschen kennen, die aus "Jugoland" kommen - und jeder Mensch, der zu kritischem Denken in der Lage ist (sind hier anscheinend nicht viele; sonst wäre das Stereotyp nicht so krass ausgeprägt), merkt: Da stimmt was nicht; was die mir da erzählt haben, war purer Mist... Zeitgleich hab ich mich mit dem gesamten slawischen Kulturraum befasst (Stichwort: "Ostblock") und seither lassen mich nebst Tschechien vor allem Teile des Balkans nicht mehr in Ruhe, und mein größter Wunsch ist es wohl, diese faszinierende Gegend möglichst bald zu bereisen.
Nebst dieser Faszination begeistern mich auch die Sprachen; kroatoserbisch aufgrund der vokallosen Begriffe (Na vrh brda vrba mrda! - Auf dem Hügel bewegt sich die Weide), der fesselnden Schimpfwortkultur ("Boli me kurac!" - Geht mir am A. vorbei; wörtlich: Mir tut der S. weh!), der Satzmelodie - es handelt sich um eine beschränkt tonale Sprache, "sam" bspw. bedeutet je nach Artikulation "ich bin" oder "allein", für mich persönlich noch schöner als Italienisch - und Bulgarisch aufgrund des legendären Murmelvokals, der irgendwo zwischen a, ä, Schwa und ö liegt - muss dann aber zu meiner Schande auch gestehen, dass sich mein Interesse für Albanien dafür eher in Grenzen hält. Die Aussprache des kroatoserbischen hab ich anscheinend schon einigermaßen raus, obwohl mein Vokabular beschämend klein ist; wohingegen ich Französisch, eine der Klischeefremdsprachen, wohl nie annähernd richtig werde betonen können - zu viele dieser schrecklichen Nasale .
Kurz: Ich wär zu gern dabei gewesen!
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...und kann den Rest des Reiseberichts kaum erwarten !
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P.S: Wenn wir schon dabei sind: Filmtip zur Situation in Bosnien und den serbisch-bosnischen Konflikt: "Gori Vatra", zu deutsch "Feuer, Feuer!" (lit: Das Feuer lodert.) Für die musikinteressierten: E.T. (Electro Team) produziert tollen Electropop auf kroatisch (Anspieltipp: Da ti nisam bila dovoljna, war ein großer Hit); erste Erfolge hatten sie noch während des sog. Vaterlandkrieges.
auch wenn das jetzt zum x-ten mal kommt... auch ich hab insbesondere diesen Teil mit großem Interesse gelesen.
Vielleicht ein paar eigene Eindrücke aus meinen (weit weniger intensiven) Stippvisiten auf Durchreisen nach Griechenland dazu:
Den bei vielen Jugendlichen und Erwachsenen vorhandenen misstrauisch-aggressiven Unterton habe ich ebenfalls verspürt. Woher kommt der wohl? Ist da Mentalität? Liegt das daran, dass sich die Leute schon immer gegenüber anderen Menschen oder dem System verteidigen mussten? Misstrauen? Ich weiß es nicht...
Sarajevo: Zuerst denke ich - wie 33o3 - an die fantastischen und so schneereichen Winterspiele 1984. Das nette Maskottchen, N. Schramm wie er beim Eislauf an die Bande gefahren ist, den fast-nobody aus den USA, der Österreich/ Schweiz in der Herrenabfahrt düpiert hat etc. ... und dann - ohne Übertreibung - der Schock, als nur wenige Jahre später das gleiche Sarajevo zerbomt wurde und die westliche Welt so lange einfach zugesehen hat. Fassungslos saßen wir vorm Fernseher.
wiederum kurze Zeit später das deja-vu auf CD: Kennt jemand von Euch die CD "Dead winter dead" von Savatage? Hinterlies bei mir mehr als nur eine schlaflose Nacht.
ach ja "zweite Welt": Lernt man diese Kategorisierung eigentlich heute noch in der Schule? War ja damals ganz normaler Unterrichtsstoff, aber irgendwie wohl politisch nicht wirklich korrekt
Irgendwie jedenfalls beklemmend kritisch und zugleich hochinteressant, dass man in Europa sowas vor der Haustür hat.
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Der Begriff "Zweite Welt" dürfte zumindest hierzulande in meiner Generation und den nachfolgenden völlig unbekannt sein. Ich bin mal vor Jahren darauf gestoßen als ich versucht habe, die Herkunft des Begriffs "Dritte Welt" zu klären. Ich meine aber, dass er zumindest selbst in den 80er Jahren noch während des kalten Krieges auch schon wenig gebräuchlich war.
Ich finde das übrigens gar nicht politisch inkorrekt, weil es meines Erachtens keine Rangordnung ausdrücken soll: der Begriff zeugt einfach nur davon, dass es zwei Bklöcke gab (und da es ein westlicher Begriff ist, ist klar, dass der Ostblock die andere, folglich zweite Welt ist) und eine von beiden so ein bisschen vergessene "Dritte Welt". Ich meine aber, dass das da kein Werturteil enthalten ist, ich sehe das eher wie Floskeln wie "Rechte Dritter", der auch daher kommt, dass es einen anderen zweiten als Gegenüber gibt (zB Vertragspartner) und dann eben "unbeteiligte" Dritte.
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die Kategoriesierung 1. / 2. / 3. / 4. Welt, die es damals m.W. nur im Westen gab, hängt schon mit der Wirtschaftsstärke zusammen. (Die 4. Welt sind die Ärmsten der Armen)
Ich fand das insofern politisch inkorrekt, da alle realsozialistischen Länder der 2. Welt zugeordnet wurden, was aber eben gerade nicht auf echten Wirtschaftsdaten beruhte sondern allein durch den Blickwinkel des Westens bedingt war.
In einer anderen Tradition, die sich im englischen Sprachraum entwickelt hat, ist Vierte Welt eine klassifizierende Zusammenfassung bestimmter Entwicklungsländer nach wirtschaftlichen Aspekten in Abgrenzung zur Dritten Welt. Dabei gab es verschiedene Arten der Klassifikation:
* Länder, die wesentlich stärker vom Erdölverkauf abhängen als andere Entwicklungsländer, wurden so bezeichnet. * Eine andere Bedeutung sind Länder, die gerade keine exportierbaren Rohstoffe besitzen, und daher noch ärmer sind als die Dritte Welt.
Gibt aber offenbar noch ganz andere...
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Ursprünglich bezeichnete Dritte Welt die blockfreien Staaten, die sich abgrenzend vom Ost-West-Konflikt dritter Block nannten; heute jedoch wird der Begriff häufig als Synonym für die Entwicklungsländer benutzt.
So habe ich das in der Schule gelernt: zwei Blöcke, die aus westlicher sich konsequent in die erste und zweite Welt eingeteilt wurden, und eine dritte - neutrale - Welt, die jedoch in Wirlichkeit meist doch in Abhängigkeitsverhältnissen zu einem der beiden Blöcke stand. Irgendein Rangverhältnis im Sinne einer Wertigkeit gab es meines Wissens in diesem Ursprungsmodell nicht, es war einfach - wie schon beschrieben - aus der eigenen Perspektive das selbt, das Gegenüber (die Zweiten) und die unbeteiligten Dritten (in der Juristerei findet man diese Begriffe dementsprechend auch noch häufiger in Bezug auf Personen).
Ich weiß, dass der Begriff verschiedene Wandlungen erfahren hat, in den 80er Jahren stand Dritte Welt in der Tat für die Armutsstaaten (was ja auf die meisten blockfreien Staaten auch schon immer zutraf), und es stimmt auch, dass er zeitweise als politisch inkorrekt angesehen wurden, weil man in der Dritten Welt von Dreien (der Begriff der vierten Welt ist mir wirklich nie untergekommen) quasi die letzte sah. Meines Erachtens hat letzteres aber wieder nachgelassen, ich habe mich ohnehin immer dagegen gewehrt, weil aus meiner Sicht diese nachträglich unterstellte Rangfolge immer ein Produkt der Unkenntnis dieser Begriffswelt und dieser tatsächlich nie immanent war.
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Äh ja, interessante Geschichtsstunden derzeit im Sommerskiforum. Eigentlich wollte ich mich schon beschweren, dass ich lieber Skiberichte von dir lesen würde, aber du schaffst es, dass selbst Bilder von verschmutzen Hochhausfassaden interessant werden, und deine persönlichen Eindrücke von "dort unten" ist sicherlich 100x nützlicher als die meisten Reiseführer.
Allerdings gibt's in vielen europäischen Städten hässliche Straßenzüge, und wenn ich mit dem Auto durch irgendwelche ländlichen Gegenden Deutschlands fahre mit dem farblosen Einheitsbrei von Häusern aus den 50ern und 60ern oder auch den neuen Klon-Siedlungen, wo 30 Häuser mit Garten nebeneinander stehend exakt ident aussehen, oder durch italienische Städte, die m.E. nicht weit von deinen Fotos aus Belgrad entfernt sind - dann bin ich doch jedesmal froh, wieder in Tirol zu sein.
Zitat:
Neben ein wenig Kontakt in die Heimat, der Euch unter anderem den Bericht aus Oberschlesien beschert
Sorry, welchen Bericht meinst du damit?
Was die ganze Balkan-Sache angeht: Ich hab mich mit dem Thema nie wirklich beschäftigt, und ehrlich gesagt gehen die meisten Kriege und Unglücke in der Welt ziemlich an mir vorbei. Weil Sie abseits meines Horizonts sind, in Gegenden, die ich noch nie besucht hatte und auch derzeit nicht besuchen will, in einer Form passieren, die mich meiner Meinung nach nicht betreffen, usw. - und bin der Meinung, dass ich damit ein unbeschwerteres, glücklicheres Leben lebe, als einer, der jeden Tag die internationalen Nachrichten durchliest bzw. im Fernsehen anschaut, verarbeitet und drüber nachdenkt und verzweifelt sich fragt, wie das alles enden wird und es ja überhaupt keine Zukunft gibt und dass überall gemordet wird und alles so unsicher ist usw. Sicher, es gibt einige Ausnahmen, aber wie gesagt, der Balkan war früher für mich "irgendwo am anderen Ende der Welt", genauo wie der Nahe Osten, und beides ist es für mich auch heute noch.
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