Während der Entstehung der Skigebietskultur in der italienischen Lombardei wurden in den späten 60er Jahren kühne Erschließungen vorgenommen.
Die Orte, die damals dabei waren und mit ihrer Infrastruktur die 3000m Marke anstrebten, zählten sich zu den besonders stolzen Topdestinationen und waren stets bemüht, diesen Status auch für künftige Generationen zu bewahren und auszubauen.
Es war die Zeit der Pioniere und ihrer Visionen, die Gipfel wie den Pizzo Groppera in Madesimo, den Ghiaccio Presena am Passo Tonale, das kühne Sommerskigebiet am Passo Stelvio und auch die 3012m hohe Cima Bianca in Bormio einer Erschließung zuführten.
Die Baumeister waren ortsansässige Spezialisten zusammen mit den damaligen Spitzen-Seilbahnbauern wie Ceretti & Tafani oder Agudio - stets im Wettlauf um die schwierigsten Pisten und das faszinierendste Panorama.
Was sich in den verwinkelten, italienischen Alpen mit zunehmender Frequentierung jedoch als problematisch herausstellte, war die oft suboptimale Erreichbarkeit der Örtlichkeiten.
Waren es doch zuvor oft verschlafene Bergdörfer oder abgelegene Provinzstädte gewesen, musste nun ein wesentlich höheres Verkahrsaufkommen geschultert werden, dem das oft verwinkelte Straßennetz selten gewachsen war.
Irgendwann war klar, dass der, der über die moderne Zugangsinfrastruktur verfügen würde, auch den Wettlauf um Frequenzen und damit Geld gewänne.
Ein weiteres Problem war die langfristige Schneesicherheit und das Gefühl der Gäste, im Winterurlaub zu sein, was besonders in Italien sehr im Trand lag und liegt.
1969 wurden in Bormio von der Firma Agudio zwei Seilbahnen, zunächst auf 2000m hinauf zur Mittelstation und von dort auf die 3012 hohe Cima Bianca errichtet.
In einer Zeit des modernen Aufbruches waren Filmklassiker wie "2001, a space odyssey" absolut en vogue und die Station wurde im zeitgemäßen, futuristischen Design auf dem kühnen Gipfel errichtet. Das Farbkonzept in Gelb, Orange und Rot entsprach dem aufkommenden Zeitgeist der 70er und war seiner Zeit sprichwörtlich voraus.
Die Bahn war der ganze Stolz der Talbevölkerung und zog auch viele, der damals noch nicht verwöhnten Gäste an. Die äußertst lange und umständliche Anfahrt durch das schmale Veltlin wurde in Kauf genommen, um auf der über 3000m hohen Cima Bianca skifahren zu können.
Doch nach nicht allzu langer Zeit stellte sich heraus, dass die Talabfahrten aufgrund Schneemangels im Tal oft nicht fahrbar waren.
Dies führte einerseits dazu, dass die Kapazität der unteren Sektion besonders im Rückbringerbetrieb nach Bormio nicht ausreichte und zweitens die Gäste im grünen Tal oft kein Gefühl des Winterurlaubs genießen konnten.
Der Gipfel selbst eignete sich dagagen mit seinem Gelände und seiner Höhe ideal zum Skifahren. Auch war bis zur Mittelstation stets ein Wintergefühl mit Schneesicherheit gegeben.
Einheimische Politiker une Geschäftsleute entwickelten darum die "VISION2000".
Geplant war erstens, eine Destination in Form einer Skistation zu erschaffen, die nicht nur leicht ereichbar, sondern auch absolut schneesicher sein sollte.
Eine Drehscheibe mit Liften für alle Skifahrerklassen und in allen Schwierigkeiten und Längen sollte entstehen.
"VISION2000" stand dafür, Bormio 2000 bis zum Jahr 2000 zur unbestrittenen, lombardischen Topdestination zu machen.
Für die Umsetzung dieser Vision wurde folgendes Realisierungskonzept erarbeitet:
- Massive Verbesserung der Erreischbarkeit Bormios durch einen kompletten Neubau der SS38 mit insgesamt fast 20km Tunnel
- Schaffug der neuen Skistation "Bormio2000" auf der Geländeterrasse der Mittelstation
- Erschleßung dieser mittels neu gebauter Straße und Hochleistungsseilbahn von Bormio aus.
Da all diese Pläne ohne Weiteres kaum finanzierbar waren, wurde die Idee entwickelt, eine Ski-WM durchzuführen, um die entsprechenden Fördermittel zu erhalten.
Auf diese Weise sollte nicht nur sämtliche Infrastruktur finanziert -, sondern auch der Bekanntheitsgrad Bormios auf internationale Maßstäge katapultiert werden.
So kam es, dass Bormio sich massiv um die Ski-WM '85 bewarb.
Um die Chancen zu verbessern, wurde bereits die untere Sektion der Pendelbahn abgebrochen und duch eine Einseil-Umlaufbahn der Firma Agudio mit deutlich höherer Förderleistung ersetzt.
Es wurde ein Bauleitplan für Bormio2000, in dem die Erschließungsstraße und die bebaubaren Flächen rechtlich verankert wurden, aufgestellt. Hauptinhalte waren eine umfangreiche Liftinfrastruktur sowie mehrere Wohnblocks und Appartementhäuser inclusive einer Geschäftsstraße, die von namhaften Architekten umgesetzt werden sollten.
Zuversichtlich, solche Rechtssicherheit geschaffen zu haben, fanden sich bereits Investoren, die eine Baustraße nach Bormio 2000 sowie einige Appartementhäuser erichteten.
Die Chancen auf die Ski WM standen sehr gut. Im Ort herrschte große Zuversicht und auch das lombardische Tiefbauamt war von den Ideen soweit überzeugt, dass mit dem Neubau der SS38 begonnen wurde. Erste Tunnels und ein Teil der neuen Trasse wurden weige Kilometer östlich von Tirano begonnen.
Doch die Ski WM kam nicht.
Die überraschende Entscheidung des Kommitees für Crans Montana traf das gesamte Tal hart.
Es waren bereits erhebliche Kosten aufgelaufen, aber erst eine unfertige Infrastruktur geschaffen worden.
Aufgrund der fehlenden Fördergelder war der Weiterbau der Infrastruktur aber nicht mehr finanzierbar.
Um zu verhindern, dass eine Unzahl von Bauruinen entstünde, gab die Provinz einmalig finanzielle Mitel frei, um folgende Maßnahmen durchzuführen.
- Fertigstellung der ca. 15km Kilometer langen Neutrasse der SS38, beginnend ca. 3km östlich von Tirano und Anschluss derer an das bestehende Straßennetz.
- Asphaltierung der schmalen Baustraße nach Bormio 2000 und Fertigstellung der wenigen, begonnenen Apartementhäuser.
- Fertigstellung und Inbetriebnahme des Übungsliftes Bormio2000.
Ansonsten kamen keine Baumaßnahmen mehr zur Ausführung.
Die finanziellen Mittel waren knapp und nach einem massiven technschen Defekt an der EUB Bormio-Bormio2000 konnte diese im Jahr 2009 erstmals nicht mehr in Betrieb gehen, sondern wurde ersatzlos abgebrochen.
Seitdem steht die Gipfelbahn Bormio2000-Bormio3000 als letzter und einziger Zeuge einer großen Vision einsam im Gebirge. Der Betrieb wird bis auf Weiteres aufrecht erhalten. Wiel lange, weiß niemand. Die notwendigsten Arbeiten nach der 40-Jahre Grenze konnten gerade noch durchgeführt werden. Eine Finanzierung weiterer Kosten ist mehr als ungewiss.
Die Frequenzen sind aufgrund der schmalen, steilen, oft vereisten Zufahrtsstraße sehr gering, so dass keine großen Erlöse erzielt werden können.
Dieses Gebiet wollten wir uns nun endlich einmal ansehen.
Wie steht es um Bormios Visionen? Was bleib vom großen Traum?
Dies sind einige der Fragen, die wir uns eines Morgens stellen, als wir den Berninapass Richtung Veltlin fahren.
In Tirano am Kreisverkehr im Ortszentrum kommt von rechts die SS38 von Richtung Comer See.
Wir halten uns links, immer tiefer in das schmale Tal Richtung Westen. Kaum ein Fahrzeug fährt In unsere Richtung. Kurz nach dem Ortsausgang erreichen wir die vor 25 Jahren fertiggestellte Teilstrecke der neuen SS38. Die Straße wirkt absolut überdimensioniert.
Einer der Tunnels wurde fertiggestellt. Aufgrund der fehlenden Frequentierung kommt eine geisterhafte Stimmung auf.
Nur wenige Kilometer nach dem Tunnel endet die Ausbaustrecke und wir erreichen die alte Straße.
Das Morgenlicht strahlt in diesem einsamen Tal, das von der Zivilisation vergessen worden zu sein scheint.
Prunkvolle Hotelbauten zeugen von einer besseren Zeit. Heute stehen jedoch viele Häuser leer und geschlossene Fensterläden sowie verlassene Uferpromenaden von zeigen unmissverständlich, dass hier niemand mehr an eine Zukunft glaubt.
Geblieben sind einzelne Landwirte, die die einstige Uferpromenade nun teilweise nutzen, deren Gänse neugierig auf uns, die seltenen Gäste zukommen.
Schließlich in Bormio angekommen, zeugt das Ortsbild bereits von der Stimmung, die hier vorherrscht.
Die Straße nach Bormio2000 ist nicht ganz einfach zu finden.
Nach dem passieren kleinerer Dörfer oberhalb von Bormio findet sich aber schließlich die Abzweigung, ab der sich die schmale, vereiste Straße fast 800hm am Hang emporschlängelt.
Oben angekommen findet sich nur eine Handvoll Autos und das Gelände um die Seilbahnstation ist weitgehend verlassen.
Nur vereinzelte Skifahrer finden sich hier ein und so schweben wir, bei zunehmend schlechtetem Wetter in einer nur spärlich gefüllten Gondel von 1969 hoch auf über 3000m.
Die Anlage selbst und das Inventar sind weitgehend historisch erhalten und in einem entsprechenden Zustand.
In der Schneide unter der PB stand mal der Übungslift. Das Liftwärterhäuschen ist das Einzige, was blieb. Es wird jetzt zu Lagerzwecken genutzt.
Nach wenigen Minuten Fahrzeit bringt und die alte Anlage der futuristischen Bergstation, die wie ein Bollwerk in schroffer Umgebung steht, näher.
Bormio 3000. Der einstige Stolz der Pioniere ist hier ablesbar.
Die Station spricht die Sprache, die man damals sprach, wenn man sich in solche Höhen vortastete. Die Patina erzählt, dass diese Zeit lange her ist.
Ein altes Liftgehänge wird zur Absperrung genutzt. Heute gibt es neben der PB keinen einzigen Lift mehr hier.
Wir geben uns einige Zeit dem Ausblick hin, als auch schon die nächte Kabine einschwebt.
Der Ausgang aus der Station markiert den Übergang in die rauhe Bergwelt.
Eisiger Wind bläst uns entgegen, als wir die Station verlassen.
Es gibt zunächst zwei Abfahrtsvarianten von hier oben.
Die aussichtsreiche auf dem Bergrücken Richtung Nordosten und die steile Nordabfahrt unter der Station.
Wir wählen die Nordabfahrt.
Die Piste überwindet ca. 1000hm, weitgehend unter der Bahntrasse.
Gegenüber Richtung Livigno erkennt man das längst stillgelegte, ehemalige Familienskigebiet von Oga/Isolaccia.
Mehrfach fahren wir die zahlreichen Abfahrten, jeweils über 1000hm, wobei uns die Pendelbahn stets schnellstens und komfortabel wieder zum Gipfel bringt.
Nicht nur vom Gipfel, sondern auch von den Abfahrten aus bietet sich ein wunderbares Panorama.
Aufgrund der geringen Frequentierung und der unzähligen Abfahrtsmöglichkeiten sind die Pisten oft so gut wie menschenleer.
Wir merken nicht, wie schnell die Zeit vergeht, als es bereits Nachmittag wird.
Das Wetter bessert sich wieder und taucht die Umgebung in winterliches Nachmittagslicht, als wir am Gipfel einkehren. Auch im Restaurant ist es ruhig. Einst dachte man über eine Erweiterung nach, doch diese Zeiten sind längst vorbei.
Schließlich fahren wir nochmals ab, um die letzte Bergfahrt für heute zu nehmen.
Unter den wenigen Skifahrern, die sich hier jetzt noch einfinden, ist förmlich die Melancholie zu spüren, die an diesem Ort allgegenwärtig ist.
Man hat das Gefühl, die Zeit sei stillgestanden, während sich die Welt um einen herum weiterdreht.
Das Abendpanorama vom Gipfel geht unter die Haut.
Leise weht der Wind, während die Umgebung langsam im Blau versinkt und sich ein Dutzend Skifahrer, die an einem längst verblassten Traum festhalten, vor dieser Kulisse bereit für die letzte Abfahrt machen.
Jeder wählt seinen Weg und schon bald staubt man allein über die Pisten zur Talstation und dem Ende des Tages entgegen.