...ich stehe mit dem Auto direkt an der Krone der Staumauer.
Das Überfahren der Krone ist nicht erlaubt - nach links führt eine Rampe zum öffentlichen Parkplatz.
Zwei Autos stehen hier noch.
Eine Zeit lang überlege ich, was ich genau tun soll. Es ist bereits nach 10 Uhr und eine Kombinierte Tour MTB bis Pian del Nido und Wanderung über den Passo die Lei zum Pizzo Somma Valle ist zwar sicher sehr lohnend - Von dort müsste es ein phantastisches Panorama über das Valchiavenna in die Po Ebene geben - aber zeitlich dürfte es mit Vorbereitung knapp werden. Und 10km im Dunklen mit dem Fahrrad am See entlang zurück sind nicht so verlockend, zumindest nicht wenn man allein unterwegs ist. Eine Fahrradpanne könnte die ganze Aktion nochmals in die Länge ziehen. Im ungünstigsten Fall könnte es knapp mit der Schließung des Tunnels um 22:00 Uhr werden. Schließlich kenne ich den Weg nicht. Es könnte, falls größtenteils weglos und teilweise eingeschneit, mehr Zeit in Anspruch nehmen, um zum Pass zu kommen. Außerdem möchte ich nicht überall hindurchrennen, sondern mir auch Zeit zum Photographieren und schauen nehmen.
Insofern wird die Unternehmung auf eine Bummelfahrt nach Pian Del Nido reduziert und kurz darauf ist das einzige Geräusch das Summen die Reifen auf dem Beton der Staumauer.
Das Umfeld ist wieder gut eingegrünt und es sieht aus, als wäre die Anlage in eine weitgehend unberührte Landschaft positioniert worden.
Einige Wege in den Hängen gegenüber verraten aber, dass hier einst eine riesige Baustelle betrieben wurde.
Beim Überfahren der Staumauer fällt der Blick auch unweigerlich auf einen solchen Weg, der sich gegenüber in wenigen Serpentinen den Hang emporschlängelt und auf ein eindeutig erkennbares Gebäude zuführt.
Diesen Weg nehme ich als Erstes.
Direkt nach der Mauerkrone betritt man italiensiches Staatsgebiet.
Völlig ausgeschlachtet, nicht vielmehr als eine Hülle, vollkommen verwittert und durch Vandalismus stark in Mitleidenschaft gezogen, mit zugemauerten Fenstern und versperrtem Eingang steht die Seilbahnstation in perfektem Licht.
Unterhalb steht die Kapelle, die auch zum Gedenken an die Todesfälle während der Bauzeit noch hier steht.
Nach einem letzten Blick auf die Ruine mache ich mich auf den 10km langen Weg am westlichen Ufer Richtung Pian del Nido.
Es ist Herbst. Die Bäche sind bereits von einer Eiskruste überzogen, unter der das Wasser fließt.
Auf dieser Seite finden sich verschiedene Fundamente der Seilbahnen. Je nach Gelände fast am Ufer oder sehr weit oben am Hang, bevor sich die Überreste am Hang Richtung Passo Angeloga schließlich optisch verlieren.
Es muss eine faszinierende Anlage gewesen sein.
Mit eingen Zwischenstopps fahre ich am Ufer des fjordartigen Sees entlang ohne auch nur einem einzigen Menschen zu begegnen.
Die sechs Alpen im Tal sind bereits geschlossen. Es gibt noch weitere, aber die liegen auf dem Grund des Sees, für immer in der Tiefe unter den Wassermassen begraben.
Zum Talschlss hin liegt der Talboden über dem Seeniveau und das Tal endet in einer unerwarteten Weite. Hierhin will madesimo sein Skigebiet erweitern.
Schlagartig sinkt die Temperatur. Ein eisiger Wind weht vom Passo Angeloga herunter.
Am gegenüberliegenden Seeufer erkennt man einen Zufluss, der zu einem unterirdischen System von Wasserläufen gehört.
In der jüngeren Vergangenheit gab es seitens des Betreibers das Bestreben, auch im benachbarten Val Madris die Wasserkraft zu nutzen.
Das Projekt scheiterte nicht zuletzt aufgrund des geschützten Hochmoores dort.
Als Kompromiss wurde das Wasser des Baches im Madris unterhalb des Moores abgeleitet und unterirdisch dem Lago di Lei zugeführt.
Im Talboden beginnen verschiedene Wanderwege und Routen.
Besonders schön soll der Aufstieg zum Pizzo Stella über die Nordseite sein, die allerdings auch eine Gletscherbegehung beinhaltet und damit eher etwas für wirklich erfahrene Alpnisten ist. Einfacher ist die Route über den Passo Angeloga und den Westgrat.
Ebenfalls startet hier der Weg zum Passo Di Lei.
Der kalte Wind und die geschlossenen Alpen fördern die Stimmung absoluter Abgelegenheit.
Auf dem Rückweg entdecke ich noch ein Relikt, das mir auf dem Hinweg entgangen ist.
Ein Stück oberhalb des Wegesrandes befindet sich eine Art Materialseilbahn, die zu einem Fundament führt.
Als ich mich wieder der Anlage nähere wird mir nochmals die Infrastruktur am Passo dello Scengio vor Augen geführt.
Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass hier offanbar Abbau für den Bau der Staumauer stattfand, dessen Zuwege und Fundamentierungen nicht beseitigt wurden.
Bemerkenswert ist, dass sich diese Relikte aud Schweizer Gebiet befinden.
Auf deren Seite, im Osten befinden sich auch die Tunnelzufahrt und ein Gebäude, vermutlich für den Betrieb.
Von dort Richtung Westen über die Mauerkrone blockend sieht man die alte PB-Station und die Kapelle.
Auf der Wasserberfläche glänzt das Nachmittagslicht und in der Ferne zieht die Kaltluft über den Passo Angaloga.
Schließlich fahre ich noch ein Stück den Passo dello Scengio hinauf, der eine beeindruckende Aussicht auf den See bietet.
Aus diesem Grund, wegen der Nähe der Grenze und des massiven Ausbaus überlege ich zunächst noch fälschlicher Weise, ob es sich heribei um eine alte Militärstraße handeln könnte.
Doch die Straße ist total verfallen. Einige Stellen sind durch Felsstürze stark eingeengt und die "Fahrbahn" verbuscht bereits vielerorts. Auf einem Fundament mache ich halt und so wende ich bereits nach einigen durchfahrenen Büschen in einem Anfall von Motivationslosigkeit und fahre zum Parkplatz zurück. Bei meiner mäßigen Fahrtechnik wäre hier Wandern die bessere Wahl gewesen.
Direkt neben dem Tunnelportal gibt es noch das relativ neue Inforama.
Es sieht geschlossen aus.
Kein Mensch ist hier, alles ist dunkel.
Dennoch müsste laut Anschlag jetzt geöffnet sein.
Ich betätige den Knopf an der Tür.
Das Licht schaltet sich ein und die Tür öffnet sich.
Ich betrete den Raum. Niemand befindet sich hier.
Hinter mir schließt sich die Tür automatisch.
Der Raum ist in eine Ambientebeleuchtung gehüllt und ein Klangteppisch aus leiser, geräuschartiger, kristalliner Musik erfüllt ihn.
In Auslagen steht diverses Prospektmaterial zur Verfügung.
Für einen kurzen Moment blicke ich umher, aber es ist tatsächlich niemand hier.
Die Ausstellung informiert über die Geschichte und die Bauarbeiten der Anlage sowie eigentlich alles sonstige Wissenswerte um das Kraftwerk.
An diesem Tag empfinde ich das plötzliche Vorhandensein von neu und modern anmutender Gestaltung, an diesem Ort, in dieser Abgeschiedenheit und dann noch ohne Personal als fast schon gespenstisch.
Als ich den Raum durch die Automatictür wieder verlasse, kommt ein Auto vorbei, dessen Fahrer freundlich grüt und mit seinem Auto über die Mauerkrone verschwindet, bevor auch ich mich auf den Weg mache, den Öffnungsknopf betätige und wieder in den Tunnel einfahre.