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Der perfekte Skizirkus
Sybille Herrmann | © DIE ZEIT, 31.01.1975 Nr. 06
Ohne Warten von einem Tal ins andere / Von Sybille Herrmann
Es begann vor gut einem Vierteljahrhundert. Erstmals in der Geschichte des alpinen "Wintersports wurde die Idee verwirklicht, nicht ein Dorf zu suchen, um dort Liftanlagen zu errichten, sondern ein ideales Skigelände, um darauf ein Dorf zu bauen. Dieses ideale Gelände hatten Kundschafter des englischen Skipioniers Arnold Lunn bereits Mitte der zwanziger Jahre in den drei Tälern der Gemeinden St. Bon, Les Allues und Belleville entdeckt. Die Höhenlage ab 1800 Meter über dem Meer und die nach Norden geneigten Hänge sprachen für gute Schneeverhältnisse bis ins Frühjahr hinein. Der Zweite Weltkrieg machte zunächst einen Strich durch die Pläne. Nach dem Krieg ging man mit neuem Elan, staatlichen Mitteln und Skiexperten wie Weltmeister Emile Allais, die Sache von neuem an.
Auf dem Reißbrett der Architekten und Pistenspezialisten entstand auf den bis dato freien Almweiden oberhalb von Courchevel 1550 das erste künstliche Dorf. Erst wurden Lifte und Abfahrten eingezeichnet, danach der Ort konstruiert. Im Dezember 1947 feierte man die Eröffnung der ersten Skistation aus der Retorte: Courchevel 1850 — mit zwei Hotels, zwei Skiliften, zwei Skilehrern und 20 Gästen.
Heute hat der Skifahrer nicht nur die Auswahl unter vier Courchevels, nach der Höhenlage schlicht „1300", „1550", „1650" und „1850" getauft. Er kann sich aus dem Superangebot der Skistation bedienen: 51 Lifte, mit einer Beförderungskapazität von 35 000 Skiläufern pro Stunde, 120 Kilometer Piste, 200 Skilehrer, 54 Pistenpfleger und 18 Maschinen und 21 000 Betten, die meisten davon in nüchternen Apartment-Häusern — wenig gemütlich nach alpenländischer Tradition, aber funktioneil: Schlaf statt, Küche, Restaurant, Friseur, Boutique — alles in einem Haus. Das war die Idee der Konstrukteure.
Im Zentrum der Station liegt der „Zentralbahnhof'', von hier aus starten drei Gondelbahnen, hier findet man aber auch Verkehrsbüro, Skischule, Postamt und Banken. Davor der „Bahnhofsplatz", auf dem alle Talabfahrten kreuzungsfrei münden. „La Croisette", wie der Bahnhof genannt wird, ist Mittelpunkt der Schneecity: Hier versammeln sich die Skischüler, hier trifft man sich zum „Pastis" im Terrassencafe, im geheizten Schwimmbecken oder auf dem Eisplatz. Für Langläufer ist mit zwei Loipen, (je 8 km) gesorgt, Wanderer finden 30 Kilometer Spazierwege.
Viele Urlauber kommen nach Courchevel der Snowbiety wegen, für die das Skidorf immer noch „in" ist — nicht zuletzt weil es einen Flughafen und eine direkte Verbindung mit Paris gibt. Wenn es der Terminkalender und der Zufall wollen, kann man in Courchevel Brigitte Bardot über den Weg laufen (sie pflegt allerdings in Meribel zu wohnen) oder Giscard d'Estaing, Pierre Trudeau oder Margaretha II. von Dänemark erblicken. ,
Der Hauch von Snobappeal kommt allerdings nicht ganz billig. Wem vor der Selbstbedienungstheke an der Piste beim Anblick eines Preisschildes von sechs Franc für einen Salat, bestehend aus zwei Tomaten und zwei Zwiebelringen, der Appetit vergeht, wer auf den Kuchen für acht Franc verzichtet, ist in Courchevel fehl am Platz. Für einen Drink in der „Bergerie", einem rustikalen Lokal, das in eine uralte Almhütte hineingebaut wurde, ist man 20 Franc los. „Die hohen Preise haben wenigstens den Vorteil, daß man keine Besoffenen sieht", stellt Ski-Hosteß Monika aus Kitzbühel nüchtern fest.
Am besten, man tobt sich tagsüber auf den Pisten aus und fällt abends todmüde ins Bett. Das Pistenangebot auf dem Hochplateau mit seinen vier Skirevieren — Saulire, Biolley, La Loze und Moriond — ist so riesig, daß man. alle Abfahrten kaum in vier Tagen schafft. Da sind ideale Hänge für Skibabys (Biolley) und -cracks (Jean Blanc, Jockey, die Couloirs an der Saulire) dabei. „Unsere Kapazität an Lifts, Abfahrten
Von der Piste in den Pool: Les Menuires
und Betten ist jetzt erschöpft", sagt Monsieur Roger Colle. „Die Station ist komplett."
Deshalb bleibt den Stationsmanagern nur, ihr „Produkt" zu verfeinern. Sie spezialisieren sich auf Serviceleistungen: So werden Babysitter vermittelt und Bänke an den Bergstationen aufgestellt, auf denen'der Feriengast bequem, seine Skier anschnallen kann. In Zukunft will Courchevel auch Kulturzentrum sein: mit Kammerkonzerten zum Gesurre der Life und Kunstausstellungen neben der wandelnden Showbühne.
Von Anfang an aber hatten die Fremdenverkehrsstrategen die Drei Täler als zusammenhängendes Skigebiet angepeilt. Heute sind die Trois Vallees der größte und gepflegteste Skizirkus der Welt: 250 Quadratkilometer Abfahrtsfläche, gespickt mit 110 Liftund Seilbahnanlagen.
Vor fünf Jahren haben sich die Drei Täler, zudenen außer Courchevel noch Meribel (1500 m} und Les Menuires (1800 m) gehören, zu einem Verband zusammengeschlossen. Für den Wintersportler bedeutet das: ein gemeinsamer Liftpaß, mit dem er von einem der parallel verlaufenden Hochtäler zwischen 1500 und 2800 Meter Meereshöhe ins andere überwechseln kann. Das dichte Netz von Bergbahnen und Schlepplifts, das sich über die Hänge zieht, bringt nur geringe Wartezeiten. Damit es auch in Zukunft keine Liftschlangen gibt, wurde ein Generalstabsplan ausgearbeitet: „Für jeweils 600 Fremdenbetten wird ein neuer Lift gebaut", erklärt Aime Illig die Kalkulation der Beförderungskapazität, die derzeit bei über 60 000 Skifahrern in der Stunde liegt. Damit sich die Skifans auch auf den Abfahrten nicht in die Quere kommen, werden ständig auch neue Pisten angelegt. Das geschieht mit einer Konsequenz, die die heimischen Skispezialisten vor Neid erblassen läßt.
So kann der Skiurlauber beispielsweise von Courchevel aus mit der Gondel auf die Saulire (2708 m) und auf der anderen Seite des Berges ins mittlere der drei Täler abfahren (umgekehrt natürlich auch), nach Meribel. Ist Courchevel als totale Skistation konstruiert — nüchtern, sachlich — so bietet Meribel das Kontrastprogramm: die perfekte Bergdorf-Idylle aus der Retorte. Der einheitliche Chalet-Charakter wird durch eine Bauverordnung erreicht: Sie schreibt für Häuser Holzverschalungen vor. Offenbar gibt es Leute, die im Urlaub nicht in Beton wohnen wollen. So malerisch die am Hang verstreuten Holzhäuser (zusammen mit dem modernen Satellitendorf Le Mottaret gibt es 7200 Betten, 1600 davon in Hotels) auch sind, es fehlt dem Straßendorf Meribel ein richtiges Zentrum, wo sich alles zum bunten Apres-Treiben versammelt. Die meisten ziehen sich abends in ihr Apartment zurück.
Für den Abend empfiehlt sich eins der wirklich gemütlichen (und erschwinglichen) Restaurants: etwa das „Oustal" (Kleines Häuschen) mit Grillspezialitäten. Oder man läßt einen Tisch bei „Kiki" reservieren, wo man sich auf gebratene Lammkeulen besonders versteht. Kikis Küche ist von acht Uhr abends bis acht Uhr morgens geöffnet, „damit die Nimmermüden und auch die Neuankömmlinge nicht verhungern müssen", meint der Wirt.
Den Kater wird man am besten im neuen Hallenschwimmbad los, das Kleinkind im Baby- Club, wo die Eltern ihre noch nicht skimündigen Sprößlinge abgeben können. Sonstige Bonbons für Winterurlauber: eine Kunsteisbahn, Wanderwege, drei Loipen und eine Pilotenschule.
Courchevel liegt auf einem Hochplateau, Meribel am Westhang zwischen zwei Bergrücken.
Von seinen beiden Gipfelstationen La Tougnette und Mont de la Challe kann man zur dritten Station, nach Les Menuires abfahren, dem jüngsten Ort der Drei Täler.
Der erste Lift wurde in Les Menuires 1967 in Betrieb genommen — zwanzig Jahre, nachdem man die Eröffnung von Courchevel 1850 feierte. Dementsprechend „futuristisch" wurde der dritte Kunst-Ort der Trois Vallees angelegt: als eine Art „Utopolis im Schnee". Bis zu 16 Stockwerke hoch-türmen sich die Wohnklötze auf, in denen derzeit 7700 Menschen, in Zukunft aber an die 30 000 Ferien machen sollen. Der Versuch, die kahle Betonlandsehaft mit ein paar Bäumen zu beleben, mißlang, weil die Pflanzen sich schlichtweg weigerten, in der unwirtlichen Gegend zu gedeihen.
Gemütlichkeit ist in den supermodernen Hotelfabriken ein Fremdwort. Die Architekten dachten wohl auch mehr au Zweckmäßigkeit: So kann der Skisportler bis vor die Haustür abfahren und in einer Ladengalerie einkaufen, ohne sich die Füße naß zu machen, da Hotels und Geschäfte alle unter einem Dach und miteinander verbunden sind. Eine eigene Radiostation bringt täglich die neuesten Nachrichten und den Schneebericht direkt aufs Zimmer. Die schönsten Pisten findet man auf dem Paradeberg von Les Menuires, dem 2S00 Meter hohen Mont de la Masse. Wer lieber ins Tal schwebt als fährt, kann in diesem Winter sogar die Kunst des Drachenfliegens erlernen.
Mit dem Auto — wie natürlich alle Stationen der Drei Täler — aber auch mit Lift und Skiern erreicht man schließlich Val Thorens, neun Kilometer oberhalb von Les Menuires. Jean Beranger, vor kurzem noch Direktor der französischen Skinationalmannschaft, managt hier mit seiner Frau, dem Skias Christine Goitschel, eine nagelneue Skistation mit erst 3200 Betten, aber mit bereits 17 Liftanlagen und 70 Kilometern Piste. Als Skigebiet (meist leichte Abfahrten) ist Val Thorens vor allem wegen seiner Höhenlage (2300—3000 m) und seinen Gletscherabfahrten (auch Sommerskilauf) interessant. Vor der Kulisse schneeund eisgepanzerter Dreitausender arbeiten im Sommer noch fieberhaft die Baumaschinen. Denn Val Thorens will noch wachsen — nicht zuletzt damit sich ein Anschluß an den Trois-Vallees-Skipaß, der nach Hotelbetten abgerechnet wird, auch lohnt. Bislang gilt er im hintersten Eck der Drei Täler nämlich nicht.