X. Epilog: Die unbeschreibliche Leichtigkeit des Schnees
Wir schreiben März 1984, ich bin mit einigen Freunden für eine Woche ins Gasteinertal gefahren, eine Pension in Hofgastein ist Ausgangspunkt für unsere Unternehmungen.
Während in den letzten Tagen durchaus brauchbares Schi-Wetter geherrscht hat, verspricht der Blick aus dem Fenster des Frühstücksraums heute nichts Gutes: eine dichte Wolkendecke liegt über dem Tal, hier in Hofgastein hat es knapp über 0 Grad, feuchte Schneeflocken gehen phasenweise in Regen über, deshalb beschließt ein Teil unserer Gruppe, heute die Schischuhe gar nicht anzuziehen sondern den Tag in der Therme zu verbringen.
Zusammen mit drei anderen Unentwegten memoriere ich den Satz: "Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Ausrüstung!" und wir marschieren durch den Ort zur Talstation der ersten Sektion der Schloßalmbahnen, der Standseilbahn Kitzstein an der Westseite des Tales an der Umfahrungsstraße. Wartezeiten gibt es heute nicht, und bald steigen wir in die Pendelbahn um, deren Tragseile sich schon kurz oberhalb der Mittelstation im Nebel verlieren. Viele Schifahrer sind nicht unterwegs auf der Schloßalm, kein Wunder, die Sicht ist miserabel, der Schnee ist ziemlich feucht und pappig, aber wenigstens geht kein Wind. Einmal fahren wir über die Nordabfahrt von der Kleinen Scharte hinunter nach Kitzstein, nach der Wiederauffahrt zur Bergstation beschließen wir, hinüber zum Stubnerkogel zu wechseln, von den Waldabfahrten ins Angertal versprechen wir uns bessere Sicht.
Zwar sind die Sichtverhältnisse auf den tiefer gelegenen Hängen etwas besser, nicht jedoch die Qualität des Schnees, sodaß wir wieder in höhere Lagen ausweichen und schließlich bei dichter werdendem Schneefall bald zu einer frühen Mittagspause an der Stubnerkogel-Bergstation einkehren. Nach einem kleinen Imbiß treten wir wieder ins Freie und ich wundere mich einmal mehr über den Kontrast der futuristischen Plexiglas-Gondeln der Stubnerkogelbahn und der antiquiert wirkenden Stationstechnik.
Wir diskutieren kurz, sollen wir auch den Schitag beenden und uns - so wie wahrscheinlich der Großteil der Urlauber heute - ins sicher überfüllte Thermalbad begeben oder stellen wir uns weiter dem Unbill der Witterung?
Irgendwie hat man den Eindruck, der Himmel in Richtung Sportgastein wäre etwas heller, dem Stubnerkogel können wir bei den herrschenden Verhältnissen ohnehin nichts mehr abgewinnen, also beschließen wir, noch einen Standortwechsel vorzunehmen. Am Busbahnhof von Badgastein vergewissern wir uns, daß die Alpenstraße geöffnet ist und besteigen gegen halb ein Uhr den Schibus. Bald zweifeln wir jedoch heftig an unserer Entscheidung, wir sind die einzigen Fahrgäste und auf der Straße nach Sportgastein durch mehrere roh aus dem Felsen gehauene Tunnel kommen uns laufend Fahrzeuge entgegen, am Parkplatz an der Station der Doppelsesselbahn steht nur mehr eine Handvoll Autos. Der Schneefall hat nachgelassen, doch dichter Nebel verhindert den Blick auf die umliegenden Berge, nur bis zur ersten Stütze kann man die Trasse der Sesselbahn verfolgen. Trotzdem begeben wir uns zur Talstation des Liftes und schnallen an. Wir fühlen uns wie in Watte verpackt, als wir langsam hochschweben, da der Schneefall praktisch aufgehört hat, können auch die Schutzhauben, die an jedem zweiten Sessel montiert sind, offenbleiben.
Ob sich bei dieser Sicht die Auffahrt mit dem Schlepper bis zum Gipfel auf über 2600 m Höhe überhaupt rentiert? Doch knapp vor der Mittelstation passiert das nicht mehr Erwartete: schlagartig wird es heller, und direkt vor mir glänzen die beiden kugelartigen Liftgebäude, die als Wahrzeichen Sportgasteins gelten, im strahlenden Sonnenlicht. Wir durchbrechen die Nebeldecke und über uns wölbt sich ein tiefblauer Himmel. Der Kreuzkogel-Schlepplift läuft, nichts kann uns mehr halten und bei der Auffahrt bewundern wir nahezu völlig unberührt wirkende Schihänge. Offenbar wurde hier seit dem Morgen nicht mehr präpariert, nur die Pistenbegrenzungskugeln geben Hinweise auf die trassierten Abfahrten, lediglich ganz wenige verwehte Abfahrtsspuren sind zu sehen. Im Gegensatz zu Schloßalm und Stubnerkogel ist der Schnee hier viel lockerer, pulvriger, etwa 30 cm dick wird die Neuschneeauflage auf den regulären Pisten sein, im freien Gelände etwas dicker. Und das alles praktisch für uns allein! Ein bißchen skeptisch bin ich schon, während ich mich nahe der Bergstation auf die Abfahrt vorbereite, im Tiefschnee habe ich noch keine großen Erfahrungen gemacht, das Fahren in unverspurtem Gelände habe ich bis jetzt immer als sehr anstrengend und fordernd erlebt, jetzt warten immerhin 1000 Höhenmeter ohne Ausweichmöglichkeit auf eine Piste auf mich. Die erste Passage legen wir auf dem Ziehweg zurück, der die oberste Steilstufe knapp unterhalb des Gipfels entschärft, das stellt für uns kein Problem dar. Und nun warten bis zur Mittelstation ideal geneigte Hänge. Noch eine kurze Pause, ich blicke um mich, unten im Tal liegt noch eine Nebeldecke, die umliegenden Berge glänzen im Sonnenlicht, gegenüber, an der Ostflanke des Schareck, erkenne ich zwei Seilbahnstützen und erinnere mich an die Projekte für diesen Berg, die mittlerweile wieder aus den Panoramakarten verschwunden sind. Wie man an diesem ausgesetzten Hang wohl eine Piste anlegen könnte?
Doch dann konzentriere ich mich aufs Schi Fahren. Wie war das doch gleich? Gewicht ein bißchen mehr nach hinten, damit sich die 2m Latten mit den Spitzen nicht im Schnee vergraben? Der Hang ist noch flach, ich lenke die Schi in die Falllinie, um Geschwindigkeit aufzunehmen, und dann folgen die ersten Schwünge, es ist wie im Traum, der Schnee ist absolut weich und flauschig, setzt dem Drehen praktisch keinen Widerstand entgegen, kein ruckartiges Herumreißen der Schi ist nötig, kein wesentlicher Kraftaufwand. Ich schwebe förmlich zu Tal, eine Euphorie erfaßt mich und wie in Trance zeichne ich meine Spuren in die Westhänge des Kreuzkogels.
Dieses Gefühl habe ich vorher noch nie erlebt, man hat zwar versucht, es mir zu erklären, aber erst jetzt, als ich diese Glückseligkeit selbst empfinde, verstehe ich, warum man danach süchtig werden kann.
Auch die anderen sind schlicht begeistert, und den Rest des Nachmittags verwenden wir, um die unberührten Hänge Sportgasteins mit unseren Spuren zu verzieren. Wie sich herausstellt sind außer uns nur mehr drei andere Schiläufer unterwegs, auch sie werden von der Magie des Augenblicks überwältigt und unter uns allen entsteht plötzlich ein zeitlich nur auf diese wenigen Stunden begrenztes eigenartiges Gefühl der Verbundenheit.
Einer der neu gewonnenen Kameraden ist Gasteiner, sicher schon über sechzig Jahre, er kennt das Gebiet wie seine Westentasche, daher haben wir auch keine Bedenken, als er uns vorschlägt, den Tag mit einer Abfahrt über die Nordseite des Kreuzkogels nach Böckstein abzuschließen. Im weiten Nordkar ist der Schnee noch etwas tiefer, aber genau so pulvrig und ideal zu fahren und ich habe das Gefühl, bis heute überhaupt noch nie richtig Schi gefahren zu sein.
Glücklich und fast ergriffen sind wir, als wir nach 1600 Höhenmetern beim Heilstollen in Böckstein unsere Schi abschnallen.Dieser Nachmittag am Kreuzkogel hat sich wirklich so abgespielt und stellt zweifellos ein Schlüsselerlebnis in meiner Entwicklung als Schifahrer dar. Während ich davor hauptsächlich auf Pisten unterwegs war, habe ich an diesem Nachmittag genau die Erfahrung von Leichtigkeit und Schwerelosigkeit gemacht, die man nicht erklären sondern nur erleben und verstehen kann.
Ich habe in der Folge den Tourenschilauf für mich entdeckt und auch beim "normalen" Schiurlaub sind es längst nicht mehr die Pisten, sondern die Varianten und der freie Schiraum, die mich anziehen.
Man darf sich zwar nicht der Illusion hingeben, daß sich Tiefschneefahren immer so abspielt wie an diesem Traum-Nachmittag in Sportgastein, meist sind die Verhältnisse bei weitem nicht so gut und es kostet einiges an Zeit, Anstrengung und Konsequenz, bevor man seine Technik so weit verbessert hat, um auch bei schlechteren Schneebedingungen Spaß beim Fahren im Gelände zu finden.
An alle, die auf dem Weg dorthin sind oder gerade aufbrechen: es lohnt sich wirklich!
Im Rahmen der Arbeit an dieser Reportage habe ich mir natürlich die Frage gestellt, wie ich persönlich zu den beschriebenen Projekten stehe.
Einerseits muß ich zugeben, daß mich Bauen im Gebirge seit jeher fasziniert hat, egal ob es sich um Straßen, Bahnlinien, Kraftwerke oder eben um Bergbahnen handelt, viele der klassischen Pendelbahnen der Alpen stellen für mich Pionierleistungen der Baukunst dar. Allerdings ist die Epoche, in der man solche Anlagen (genauso wie Straßen- und Bahnprojekte) angepaßt an und im Einklang mit der Natur plante und errichtete, längst vorbei, heutzutage wird die Landschaft dem Bauwerk angepaßt und nicht umgekehrt.
Ich denke, die Erschließung des Scharecks vom Naßfeld aus mit den Liftanlagen am Gletscher und der Abfahrt nach Kolm Saigurn hätte - gemeinsam mit dem Bau der Hotelsiedlung in Sportgastein - den Schigroßraum Gasteinertal optimal erweitert und abgeschlossen. Sowohl architektonisch alsauch infrastrukturell wären höchst interessante Konzepte und Überlegungen zur Anwendung gekommen. Angesichts der touristischen Vorgeschichte wäre auch vom historischen Blickpunkt aus betrachtet die Erschließung des Wurtenkees von der Gasteiner Seite her verkehrstechnisch und alpinistisch sinnvoller gewesen als der gegen Ende der 80-er Jahre erfolgte Ausbau aus der Innerfragant.
Darüber hinausreichende Ausbaupläne hätten meines Erachtens jedoch den Rahmen gesprengt und ich denke, es ist gut, daß Sonnblick und Hocharn das geblieben sind, was sie seit einem Jahrhundert darstellen: ideale Tourenberge!
Quellen:
Albrecht Dr. Friedrich, Hromakta Dr. Anton; 500 Sonntags-Skiabfahrten vom Wienerwald bis Zell am See; 1933 Verlag A. Holzhausens Nachf. Wien;
Kornacher Hermann, Die schönsten Wintersportplätze, 1966, moderne verlags gmbh, München;
Neuwirth Hubert, Skiparadiese Europas, 1974 Süddeutscher Verlag;
Pause Walter; Ski Heil, 100 schöne Skiabfahrten in den Alpen; 17. Auflage, 1972 BLV Verlagsgesellschaft mbH;
Riddell James, The Ski-Runs of Austria, 1958 Michael Joseph, LTD;
Schwanda Hans, Skiglück in den Tauern, 1967 Verlag Das Bergland-Buch Salzburg - Stuttgart;
24 Skisterne, 1965 Bergverlag Rudolf Rother, München;
DSV-Skiatlas 1982, Mairs Geographischer Verlag
ÖSV-Skiatlas 85, Fink-Kümmerly+Frey
Werbeprospekt "Salzburger Land", ca. 1974
Wikipedia
Archiv der Gasteiner Bergbahnen
Telefoninterview mit Direktor Rudolf Fornather
Herzlich bedanken möchte ich mich bei
Direktor Wolfgang Egger und Fr. Corina Stadler für ihre Mithilfe bei meinen Recherchen im Archiv der Gasteiner Bergbahnen
Direktor Rudolf Fornather für seine Bereitschaft, mir am Telefon Einiges über die damalige Zeit zu erzählen
Bernd Schwanda, Enkel des Alpinisten, Autors und ehem. Inhabers des Sportartikelgeschäfts Schwanda (
http://www.schwanda.at ) für die Genehmigung der Verwendung von Textpassagen und Abbildungen aus dem Buch seines Großvaters