Sein und Zeit.
für Jel
Retro-Tour IIa: 3. Sella Nevea, Friaul, 6.1.2006
Zurück zur Übericht der Tour.
Zum vorigen Tag: 2. Sappada, Venetien, 5.1.2006.
Zeit... was ist Zeit? Sie verstreicht und ist doch kaum wahrnehmbar, steht still und rinnt ungesehen hinfort... eine weitere Fahrt, eine weitere namenlose Straße, der Schlafentzug lässt mich immer wieder entgleiten in die Halbwelten schemenhafter Tagträume.. ich hänge an der kalten Scheibe des Wagens, filmhaft streicht die graue kalte öde Landschaft an mir vorbei, ich nehme sie aber kaum wahr... heruntergekommene, halb verlassene Dörfer, nichtssagende Täler, trostlost wie sie nur der Januar machen kann.. was tun wir hier? Schatten sind diese Landschaften allenfalls, wenn überhaupt. Im Herbst durchquerte ich einst bereits das Friaul, schon damals wusste ich wenig mit diesem Landstrich anzufangen, einzig seine Unveränderheit, sein landschaftlicher Urzustand mag ihn möglicherweise reizvoll machen.. aber diese zukunftslosen trostlosen Dörfer, wenn mag es hierhin ziehen? Alte Bergbauorte, längst dem maroden Zerfall preisgegeben, Hoffnungslosigkeit und Tristesse spricht aus jedem Stein, jeder Mauer, jedem Haus. Was mag das Leben hier lohnenswert machen? Oder ist es einfach zu spät, um noch zu gehen?
Irgendwann erreichen wir ein großes Tal; ein weiter Fluss, graue Strukturen einer der hässlichen Schlagadern unserer europäischen Wirtschaft: schmutzig trist zieht sich das lange Band der Autostrada von Villach nach Udine über endlose aufgeständerte Brücken durch das Val Canale, das um diese Jahreszeit ebenfalls nichts als Trostlosigkeit bietet. Verlassene Häuser, zerissene Fassaden, Ruinen jenseits von Hoffnung und Wiederbelebung. Irgendwo in diesem grauen Nichts zweigt eine kleine unscheinbare Straße in eine enge Schlucht ab, ein rostiger Hinweis weist einzig den Weg: Sella Nevea!
Warst du einst Hoffnung dieser Landschaft? Solltest du retten, was nicht zu retten war? War es an dir, das lebensnotwendige Geld zurück in diese Lande bringen, denen der Niedergang des Bergbaus zum Verhängnis wurde? Wer bist du? ... so am Ende der Welt gelegen, im Grenzland... Welche Menschen sollten hier her kommen, um Urlaub zu machen? Wen wolltest du 1968 mit deinen künstlich implantierten futuristischen Betonbauten in diesen verlassenen Winkel der Welt locken? Österreichs Metropolen sind weit, Deutschland noch ferner, weitab all die Routen durch das restliche Italien ... wie kann ein Ort nur so abgelegen sein, wie dieser...
Die Straße ist alt - alt, eng, fast etwas gespenstisch. Keine Dörfer, keine Häuser, keine Infrastruktur. Niemand lebt in dieser Schlucht, es gibt nur die Straße - und eine riesige verrostete Leitung aufgeständert auf verwitterten Betonpfeilern, an die Felsen montiert. Leere dominiert dieser Welt, wer fährt in dieses Grenzgebiet, welches Ziel hat die Straße? Eine einsame Passhöhe weit abseits der gewachsenen Zivilisation.... wer nutzt diese Route? Vielleicht war der Sattel früher der einzige Weg in den Norden, als das Val Canale mit seinen Schluchten noch unpassierbar war und kein graues Betonband seinem Verlauf folgte? Aber heute? Die Straße führt ins Nichts, mitten in die Einöde. Nichts ist dort, was einen bewegen könnte, hier herauf ins Grenzgebiet zu kommen, nichts, dass einen Anreiz darstellen würde, der beschwerlichen Straße tausend Höhenmeter hinauf an das Ende der Welt zu folgen. Kilometerlang windet sie sich durch die Schlucht, ohne Zeichen menschlicher Anwesenheit zu passieren. Am Ende liegt die einsame Passhöhe, dahinter nur ein weiteres ödes verlassenes und vergessenes Tal - und dazwischen das Relikt, die Station: Sella Nevea.
Was bist du? Skiort? Urlaubsdomizil? Ein Ort, wo Menschen ihre wertvolle freie Zeit genießen möchten? So utopisch diese Anlage, so entlegen der Ort, man mag kaum glauben, dass sie einst erbaut wurde, um Menschen in diese gottverlassene Gegend zu bringen! Gigantische Betonbänder stehen mitten in der Ödnis, heruntergekommen und irgendwie tot - Zeugen und Mahnmale eines erloschenen touristischen Traums. Liegen in diesen Särgen aus verwittertem Beton die einstigen Hoffnungen auf einen erneuten wirtschaftlichen Aufstieg begraben? Liegt in den alten Fundamenten der Hochhäuser das Grab der Euphorie, die die Menschen einst diese Monumente, die die Moderne preisen und einleuten sollten, errichten ließ? Ich weiß es nicht und fürchte es doch fast! Seit der Eröffnung im Jahre 1968 ist die gesamte Infrastruktur beinahe unverändert, nach fünfunddreißig Jahren reichte das Erwirtschaftete gerade einmal für den Ersatz zweier Schlepplifte durch eine wenige Meter lange Sesselbahn. Das - und weiter nichts - ist die gesamte touristische Entwicklung von Sella Nevea seit seiner Geburt, das allein ist die Bilanz all der Jahre, die 1968 zur Vergangenheit machten. Es gibt keine Verbindung mit dem Gebiet auf slowenischer Seite wie es seit Jahrzehnten geplant war, kein Skigroßraum Canin, keine Erweiterungen, wie sie früher einmal angedacht, nichts. Es ist stets 1968 geblieben an diesem einsamen Ort, nur dass der Beton, die Farbe, die Fassaden der Zeit nicht widerstanden. So sind sie mit der Zeit zu düsteren Mahnmahlen avanciert, Monumente eines entäuschten und vergessenen Traumes...
Die Stimmung ist düster hier oben, die anonymen Gebäude, in denen man kaum Menschen sieht, unterstreichen das. Und doch ist der Ort auch faszinierend. Wer wie ich ein wenig Liebe der Melancholie entgegen bringen kann, findet schon in dem Gefühl, das er vermittelt, eine Besonderheit. Die Landschaft um den Canin ist wunderschön; wunderschön einsam, wunderschön verlassen, wunderschön unberührt... die Station ist der Kontrapunkt, die erloschene Hoffnung, die aus ihr spricht, steht im Kontrast zu dieser märchenhaften Landschaft.
Auch ist die Station - ähnlich wie Marilleva im Val di Sole - eines der wenigen immer noch authentischen Beispiele für Konzept und Idee hinter diesen avantgardistischen Planungen einer vergangenen Zeit. Alles ist bis heute im Urzustand, es war niemals das nötige Geld dar, Veränderungen, Anpassungen oder Renovierungen vorzunehmen, aus jeder Fassade, jedem Assessoir, jedem Relikt spricht die Vergangheit - Remineszenz ist das einzige was dem Ort geblieben ist. Und auch dies kann seinen Reiz haben, wer Augen für derlei hat, kann in diesen Straßen viel entdecken! Sella Nevea ist ein sehr außergewöhnlicher Ort und als solcher sehenswert. Er ist nicht vergleichbar mit den Schandmalen der französischen Hochgebirge, er blieb zwangsweise in seinem Urzustand erhalten. Es wurden keine neuen Chalets im pseudo-tiroler Stil zwischen die Hochhäuser gebaut, keine neuen Großraumtiefgaragen vor dem Ort mit Holzverkleidung errichtet; es gibt keine große Tourismuszentrale mit WLan-HotSpot und auch kein Kapellenimitat. Nur eine handvoll gigantischer Betonblöcke, eine verwitterte, aber sehr schöne Ceretti e Tanfani Pendelbahn und einige, mittlerweile etwas renovierte Marchisio Schlepplifte stehen hier. In den Restaurants findet sich immer noch das originale Mobiliar, das einen an alte Agentenfilme mit Alain Delon denken lässt; der rot-orange Lack auf allem Metall, der einst so charakteristisch war, er findet sich auch hier; der rohe Beton, der einmal Kunst und Kultur darstellte, er wurde nie verändert.
Erster Blick aus der Schlucht auf die Hänge von Sella Nevea - Bahn und Talabfahrt.
Morbide Impressionen...
Topsound Discoteca... ein weiteres Relikt... ob sie noch ihre Pforten öffnet? Erinnern sich ihre Mauern noch an ihre jungen Tage, den Sound von Led Zeppelin, The Grateful Dead und Pink Floyd... ?
Wie konnte dieses Schigebiet überhaupt überleben? Eigentlich gibt es als einzige interessante Abfahrt nur die Talabfahrt. Vorbei an den großen, sehr dolomitenhaften Felswänden windet sie sich durch die wildromantische Landschaft zurück zur Station. Oben hingegen, wo die neue DSB zwei alte Schlepplifte ersetzte, existieren lediglich Ziehwege und eine sehr kurze, völlig flache Abfahrt. In Ortsnähe zwei weitere, sehr kurze Schlepplifte mit zugewucherter Trasse und ebenfalls völlig belanglosen Pisten, einen letzten Schlepplift schließlich noch an der Passhöhe, der vom restlichen Gebiet aus nicht zu erreichen ist. Wer reist hierhin, um Urlaub zu machen? Die wenigsten werden so wie wir, die wir stets Ausschau nach ungewöhnlichen Orten halten, nur aufgrund der subtilen Besonderheiten den extrem langen Weg hierher finden... eigentlich hätte diese Skistation längst als Ruine eines gescheiterten Traumes enden müssen. Dennoch ist sie es nicht, wenn auch überlaufen wohl übertrieben wäre, zumindest aber ausgestorben ist sie nicht. Ein Rätsel - für mich zumindest.
Besser mag es möglicherweise aussehen, falls die Verbindung zum slowenischen Caningebiet doch noch realisiert werden sollte. Geplant ist seit Jahrzehnten, mit einer Sesselbahn auf den Sella Prevala oberhalb des höchsten Punktes im Schigebiet an das Gebiet jenseits der slowenischen Grenze anzuschließen. Im Moment scheint diese Idee sogar erneut in greifbarer Nähe gerückt: auf slowenischer Seite wurde bereits eine neue Anlage - eine fixgeklemmte 4SB - errichtet, welche dort den Anschluss zu den anderen Aufstiegshilfen herstellt. Auf italienischer Seite ist das beeindruckende Hochtal bis heute völlig unerschlossen. Wir werden es am morgigen Tage mit Tourenschi durchqueren und so eben jene geplante Verbindung vorwegnehmen, um das slowenische Caningebiet kennen zu lernen. Dort werden wir auf Miki treffen, der mit seinen traumhaften, beinahe romantischen Sommerbildern von der slowenischen Caninseite, meine Liebe für dieses grandiose, fast westalpine Gebirge erweckt hat. Sollten sich die Italiener also schließlich aufraffen, die letzte fehlende Anlage zum Sella Prevala noch zu errichten, es entstünde ein interessantes, landschaftlich extremst reizvolles und durchaus abwechslungsreiches Schigebiet. Derzeit jedoch ist zumindest das Schigebiet von Sella Nevea für sich allein von sportlicher Seite aus betrachtet sicher nicht die weite Reise wert. Aber es sind eben die Besonderheiten die wir suchen, das Ungewöhnliche, das, was nicht alltäglich ist. Der Stil, das Ambiente, die Stimmung vor Ort - das alles entschädigt für den Moment für fehlende Vielfalt und Weitläufigkeit.
Nach unserer Ankunft erfolgt zunächst eine ausfürhliche Ortsbesichtigung, anschließend packen wir unser nötigstes Gepäck in die Rucksäcke: als Domizil dient uns ein weiteres Mal ein Rifugio, das Rifugio Gilberti am höchsten Punkt des Schigebietes. Abgesehen von der wunderbaren Erfahrung, im Hochgebirge zu übernachten abseits der Zivilisation und von der besonderen Stimmung und dem eigenen Klientel hieroben, ermöglicht uns diese Übernachtung auch den Schipass für den morgigen Tag einzusparen. Vom hieraus haben wir die Möglichkeit, direkt nach Slowenien aufsteigen, ohne irgendwelche italienischen Liftanlagen zu benutzen, zurück wiederum ist bis auf den letzten kurzen Gegenhang, eine wunderschöne Tiefschneeabfahrt Entschädigung für den morgendlichen Aufstieg.
Der Parkplatz im Bereich des Seilbahntalstation. Im Hintergrund einige der Betonkolosse und das Anfängergebiet.
Impressionen eines weiteren Monumentes: die alte C&T Talstation in Sella Nevea.
Die Kabinen wurden vor einigen Jahren ersetzt. Ein Stilbruch, wenn auch nicht der gravierendste, der hätte eintreten können.
Das Rifugio Gilberti.
Der Skitag in Sella Nevea gestaltet sich ansonsten eher unspektakulär. Nach einigen wunderschönen Talabfahrten - die extreme Schneelage krönt das wildromantische Landschaftsbild - werfen wir noch einen kurzen Blick auf die Schlepplifte in Ortnähe. Als einige der letzten Überlebenden des Fabrikats Marchisio waren auch sie Grund für unsere Anreise. Vor kurzer Zeit hat CCM die Anlagen überholt, sie dabei aber gleichzeitig sehr authentisch belassen. Die zugewucherten Trassen geben der Stimmung ein übriges, die beiden kurzen Pisten hingegen sind äußerst unspektakulär.
Die neu errichtete DSB - durch den Wegfall der SL sind bloß noch weitere Ziehwege hinzugekommen...
Stahlbeton, der der eisigen Einöde der Eiswüste trotzt: Bergstation der Funivia Monte Canin.
Wunderbar romantische, dolomitenhafte Talabfahrt ohne Massenverkehr des Pendants in Südtirol.
Restaurierte, aber authentische und sehr rare Marchisio Schlepplifte.
Aufgrund meiner angeschlagenen Gesundheit - ich fühle eine Erkältung nahen - und meiner extremen Müdigkeit, trenne ich mich von den anderen. Ich flaniere noch etwas durch den Ort, beobachte und begutachte das ein odere andere Relikt früherer Architektur und suche dann recht bald meinen Weg zum Rifugio. Ein kurzer Tausch der Schischuhe mit den Bergschuhen, etwas bequemere Kleidung, dann mache ich mich wieder auf den Weg, um den Abend zu genießen.
Weitere Eindrücke aus der Station.
Mit dem allerletzten Sessel, eigentlich schon deutlich nach Betriebsschluss, erreichen schließlich auch Gerrit und k2k die Anhöhe. Für allseitige Belustigung sorgt Gerrit, als ihm ein Handschuh (oder Stock?) am Ausstieg direkt vor der Station in den Schnee fällt. Der Versuch, diesen sodann bei mittlerweile abgeschalteten Lift von der Plattform, an die der umliegende Schnee heranreicht zu bergen, führt zu einem Titanic-gleichen Untergang Gerrits im weißen endlosen Meer, so dass gewisse Anstrengungen erforderlich sind, ihn aus dieser misslichen Lage zu befreien. Leider kommt keiner dieser süßen Bernhardiner Suchhunde vorbei, so dass wir ohne schmackhaftes Rumfässchen auskommen müssen. Stattdessen treten wir vorerst den Rückweg zum Rifugio an.
Nachdem wir uns beim Wirt hinsichtlich unserer morgigen Aufstiegsroute informiert und ein wenig über die Sommerschigeschichte von Sella Nevea geplaudert haben - es gab in den 80er zwei Seillifte auf einem Firnfeld im schattigen Talgrund unterhalb des Sella Prevala - folgt ein rustikales, reichhaltiges und gutes Essen. Außer uns sind nur wenige Gäste hier oben, ich genieße die Ruhe. Der noch junge Abend motiviert uns, eine kleine Nachtwanderung zu unternehmen. So stehen wir wenig später wieder an der Sesselliftstation, die sich bei dieser Gelegenheit ausführlich inspizieren lässt.
Die nächtliche weite weiße Landschaft im Lichte des Vollmondes, auch dieses ein märchenhafter Traum. Während die Eisgipfel sanft im Mondlicht schimmern und außer Station und Rifugio weit und breit keine Lichtquellen auf den Hängen sind, strahlt das Kunstlicht der tief unter uns gelegenen Skistation von unten die tief hängenden Wolken an! Was für ein Bild! Die Nacht im Hochgebirge birgt so viele Schönheiten für den offenen Betrachter... ich möchte so gerne öfter hier oben sein! Diese weite ruhige Landschaft im kalten Mondlicht - ich könnte sie ewig genießen. Die Stille hier oben, der ruhige Puls in den Adern, ein ganzes Jahr lang zehre ich von solchen Erinnerungen, in meinem ansonsten so leidenschaftlich rastlosen Leben. Ruhe und Schlaf, ich finde sie hieroben, in der kleinen Dachstube des Rifugios, am Ende dieser Welt, die hier doch so viel schöner ist als in all ihren vielen pulsierenden Zentren - hier im hintersten Winkel der Alpen, im italienisch-slowenischen Grenzgebiet. Was ist, verblasst, was bleibt, bestärkt... es geht wie stets nur um ein einziges: Sein und Zeit.
Zurück zur Übericht der Tour.