Alle Jahre wieder: Das große Zittern um den Schnee und die entsprechenden Verhältnisse. Vor allem im Frühwinter (und in manchen Jahren selbst im Hochwinter) sind die Bedingungen zum Skifahren einfach nur enttäuschend, Herumrutschen auf irgendwelchen Kunstschneepisten mag nach langer Skipause für die ersten Stunden etwas Spaß machen, aber dem folgt dann doch recht bald ein Gefühl der Eintönigkeit und des lustlosen Abspulens von Pistenkilometern. Off-piste-Möglichkeiten sind – wenn überhaupt - meist nur eingeschränkt vorhanden und auch die meisten Touren vom skifahrerischen Aspekt her unlohnend.
Nein! Heuer sollte es mal was Anderes werden. Die Nervenanspannung des „Auf-den-richtigen-Schnee-Wartens-und-Hoffens“ ist in meinem fortgeschrittenen Alter einfach schon zu unerträglich geworden. Daher entschied ich mich bereits im Herbst auf eine Alternative zu Ski. Da Sonne und Strand für mich nicht interessant sind, entschied ich mich für Schatten und Eis. Gefrorene Wasserfälle haben eine ganz besondere Ästhetik. Darauf Herumzuklettern erscheint mir in seiner absoluten Sinnlosigkeit bei gleichzeitig relativ hohem körperlichen und mentalen Einsatz als erlebnisreiche und lohnende Winterbeschäftigung.
Bis vor einigen Jahren galt Eisfallklettern ja noch als absolute Verrücktheit für potentielle Selbstmörder (zumindest in der Sichtweise von einigen Unbeteiligten). Mittlerweile ist – nicht zuletzt dank verbesserter Ausrüstung – beinah so was wie ein Boom im Eisklettern zu verzeichnen. Künstliche Eistürme werden in vielen Skiorten als Apres-Ski-Möglichkeit angeboten und erfreuen sich zunehmender Beliebtheit.
Aber so halbe Sachen sind irgendwie nichts … Wenn schon, dann gleich im richtigen Ambiente, das Simulacrum kann für mich die Realität nicht ersetzen …
Also suchte ich mir einen Eiskletterkurs und wurde bei der Alpinschule Bavaria in der Schweiz fündig, die ein ganzes Spektrum davon in den verschiedensten Gebieten der Alpen anbietet. Nachdem ich ein (für mich) halbes Vermögen an Geld in neue Ausrüstung investiert hatte und am Weihnachtsabend noch die letzten Basteleien an den Steigeisen vorgenommen hatte, ging es endlich nach Weihnachten auf die Reise nach Davos, wo wir (mein Kletterkumpfel Gerhard und ich) im Sertig, einem abgelegenen Seitental, Quartier bezogen.
Bereits das Quartier war irgendwie „standesgemäß“. Wir schliefen im Atomschutzbunker (leicht adaptiert als Massenlager) im Keller eines kleinen Hotels. So kamen wir zu günstigen Preisen in den Genuss des sehr gehobenen Restaurants dieses Hotels (beliebtes Ausflugsziel von Kutschenfahrten ab Davos).
Unser Quartier: Die Bunkertür zum Schutzraum
Noch was zum Thema Ausrüstung. Eisklettern ist zumindest genauso aufwändig wie das Skifahren (auch was die Wartung der Dinge betrifft). Dazu kommt als besonderer Kick der Charakter der Ausrüstung, den der kanadische Eiscrack Will Gadd so prägnant formuliert hat:
„Moderne Eiskletterausrüstung ist eine erstaunliche Synthese aus mittelalterlichem Waffenarsenal und neuzeitlicher Raumfahrttechnologie. Ein gutes Eisgerät in den Händen zu halten … hat was Archaisches – man spürt das Verlangen, es in der gleichen Weise zu schwingen wie ein längst verblichener Vorfahre die Knochenkeule.“
Der Eiskletterer als moderner „Conan, der Barbar“
Nachdem wir bereits am Vorabend angereist waren konnten wir endlich am nächsten Morgen die nahe und weitere Landschaft in Augenschein nehmen.
Hotel Walserhuus (ca. 1860m) im Sertigtal bei Davos
Blick aus einem Stand in den Eisfällen zurück ins Sertigtal mit unserem Quartier (am Berghang dahinter ist übrigens das Skigebiet Jakobshorn und am Horizont sieht man zur Parsenn)
Der Blick auf die gefrorenen Wasserfälle war zunächst mal etwas furchteinflößend. Aber immerhin hatten wir noch zwei Stunden Galgenfrist bis der Bergführer und Kursleiter sowie die anderen zwei Kursteilnehmer eintrafen.
Blick von unserem Quartier zu den Sertigfaellen
Beim Aufstieg zu den Fällen kam dann bei klirrender Kälte sogar so was wie Winterstimmung auf. Zwar lagen bloß 20-50 cm Schnee, die aber trotzdem reichten um der Landschaft den richtigen Anstrich zu geben.
Winteridylle im hinteren Sertigtal
Durch knietiefen Schnee (zum Glück war jedoch gut gespurt) stapften wir den Steilhang hoch zu den Wasserfällen.
Nach kurzer Einweisung ging es ans Eingemachte … die ersten Schritte im steilen Eis. Vorneweg noch was zum Risikomanagement. Ganz ungefährlich kann Eisklettern allein aufgrund des Mediums Eis nicht sein. In unserem Fall (wir waren ja top rope gesichert bzw. kletterten ausschließlich im Nachstieg) ging die größte Gefahr vom Eisschlag aus, ausgelöst durch uns selber bzw. durch andere Kletterer. Die Eisbrocken (unterschiedlichster Größe) fallen bzw. springen nämlich in ziemlich unkalkulierbaren Richtungen bzw. Flugbahnen herunter (direkt unterhalb anderer Kletterer soll man sich sowieso nie aufhalten, auch der Sichernde sollte soweit wie möglich aus der Schussbahn sein). Trotz aller Vorsicht gab es im Laufe der Tage einige Verletzungen, die sich leider auf zwei Leute konzentrierten (u.a. den Bergführer der ein Cut auf der Lippe, eine geschwollene Hand und eine schmerzhafte Schulter davontrug).
Auch die scharfen Ausrüstungsteile (Steigeisen, Eisgeräte, Eisschrauben), die man bei sich trägt, birgen ein z.T. unkontrollierbares Risiko. Stürzen im Eis ist nicht zuletzt daher – im Gegensatz zum Fels – immer noch ein Tabu (Ausnahme sind „Rutscher“ ins Seil beim Nachsteigen oder Top-Rope-Sichern, die im unserem Fall alle ohne Konsequenzen blieben).
Die ersten Schritte im Eis
Das Klettern selbst ist im leichten Steileis (so um die 60-70 Grad) von den Bewegungsabläufen ziemlich intuitiv. Die Kunst liegt im ökonomischen Setzen der Eisgeräte und im richtigen Antreten mit den Steigeisen. Schlägt man mit den Geräten z.B. zu hart, kostet das enorm schnell Kraft und Kondition, außerdem verbraucht man dann auch viel Energie beim Heraushebeln der Geräte (dabei kann man verzweifeln, v.a. wenn man gerade in einer nicht bequemen Position ist und eigentlich so schnell wie möglich weiter schlagen möchte).
Das Seilhandling ist recht ähnlich zum Fels. Neu für mich war das Hantieren mit Halbseilen, die u.a. den Vorteil längerer Abseilmöglichkeiten bieten. Im Sertig sind glücklicherweise die Stände fertig an Bohrhaken in den benachbarten Felswänden eingerichtet. Unser Bergführer (und Leiter der Alpinschule Bavaria) sorgte dafür, dass der Überblick stets bewahrt blieb.
Das Eis (bzw. die daraus geformten Fälle) sind unglaublich faszinierend und es bilden sich die aberwitzigsten Strukturen.
Die Kerze am linken Fall ist die schwierigste Route (WI 5-) im Sertig
Die kleine Kerze am rechten Fall (WI 4+) – ein Kletterer aus Genf hat bald das schwierigste überstanden
Neben der Steilheit definiert die Art des Eises den Schwierigkeitsgrad des Kletterns. Weiches Eis lässt sich einfach und mit vergleichsweise geringen Kraft- und Konditionsaufwand klettern. Hartes Eis ist oft spröde und das Setzen der Eisgeräte benötigt viel Kraft. Zudem splittert es oft, so dass etliche Schläge notwendig sind und man sich selbst gleichzeitig dauernd mit Eissplittern berieselt. Im schlimmsten Fall lösen sich gleich ganze Platten, die einem aufgrund ihres Gewichts aus dem Stand werfen können und/oder zumindest für blaue Flecken oder Schnitte im Gesicht etc. sorgen.
Besonders schlimm ist Blumenkohleis, das sich in bizarren Formationen unterschiedlichster Größe formt. Hier ist es schwierig mit den Geräten Vertrauen erweckenden Halt zu finden. Bei uns war eine Route derartig geformt, wobei zum Glück unser Führer bereits zwei Wochen vor uns diese Route vom schlimmsten (d.h. lockeren) Eis befreit hatte.
Klettern im Blumenkohleis
Im Lauf der Tage kletterten wir an allen Wasserfällen. Landschaftlich besonders schöne war das Couloir am äußersten rechten Rand, wo wir aus Zeitgründen aber leider nur die 1. Seillänge (bis hinter dem ersten engen Felsschlupf) klettern konnten.
Beim Eisklettern lernt man recht schnell seine Grenzen kennen. Für Anfänger wie uns war das Vertrauen in einen Stand bloß auf einige wenige Zacken der Steigeisen stehend und den Griffen der Eisgeräte hängend, die nur (und oft wackelig) zwei oder drei Zentimeter im Eis steckten, schwierig zu gewinnen. Gleichzeitig steilt sich so ein gefrorener Wasserfall – auch wenn er nicht einmal annähernd in die Nähe der Senkrechten kommt – unglaublich auf. Wird’s dann noch steiler – so ab ca. 80 Grad – hat man subjektiv das Gefühl auf einer rutschigen und lotrechten Platte zu krabbeln. Das Ausholen mit den Geräten wird zur Qual – körperlich wie auch mental, da man glaubt nach hinten aus der Wand gedrängt zu werden. Auch das Steigen mit den Füssen wird verkompliziert, da man meint, keinen Platz für die Knie mehr zu haben. Dazu kommt, dass bereits nach wenigen Metern Ermüdungserscheinungen auftreten. Insbesondere meine linke Hand fand ich manchmal beinahe störend, allein das Heben der Eisgeräte und das Ansetzen des nächsten Schlages wurden zur Qual.
Besonders gemein ist, dass ab und an der Vorsteigende zur Sicherung eine Eisschraube setzt, die dann natürlich vom Nachsteiger zu entfernen ist. Im Steilen wird das Rausschrauben dann zum Wettrennen zwischen verbleibender Kraft des haltenden Arms, der Wadenmuskulatur und der Geschicklichkeit/Geschwindigkeit der rausdrehenden Hand.
Die äußeren Bedingungen tun das übrige um den Ganzen noch eine besondere Note zu verleihen. Letztlich ist ja Winter und Wasserfälle haben die Eigenschaft am ehesten im Schatten zu gefrieren. Trotz wolkenlosen Wetters waren wir die ganzen vier Tage ausschließlich im Schatten.
Bei einer Tour, die wir nebeneinander in zwei Varianten gingen, hatte ich mal besonderes „Losglück“ und durfte jene Variante gehen, die zu allem Übel auch noch von oben mit erfrischenden Wasser betröpfelt wurde (wobei die Menge der Tropfen pro Zeiteinheit einem durchschnittlichem sommerlichen Platzregen glich). Das Verrückte war, dass ich diese Dusche durchaus angenehm empfand, da ich durch die Anstrengend total verschwitzt war. Oben angekommen gefror das Wasser dann in kürzester Zeit auf der Kleidung und am Helm, an den Handschuhen etc. und bildeten einen yeti-ähnlichen Eispanzer auf meinem Körper …
Mit anderen Worten: Eisklettern ist urgeil!