Seilbahnbau zwischen Gletscher und Granaten – Chamonix-Courmayeur (08.08.2016)Über immerhin drei Länder sollte die heutige Reise führen. Von Luzern aus ging es mit dem Zug direkt nach Lausanne und mit anschliessendem Umstieg weiter, entlang des Genfersees, am berühmten Schloss Chillon vorbei ins Rhonetal. Eine Gegend, welche für die Schweizer Geschichte wie auch für diejenige Savoyens eine hohe Bedeutung besitzt. Zeuge davon ist die Abtei Saint-Maurice. Gegründet im Jahr 515, besteht sie als ältestes ununterbrochenes Kloster des Abendlandes fort. Kurz nach St. Maurice kam schliesslich Martigny in Sicht, wo auf die Martigny-Châtelard-Bahn (MC) umgestiegen wird.
Die Eisenbahn(en) von Martigny nach ChamonixBahnen haben so ihre Geschichten. Dies gilt für Bergbahnen ebenso wie Eisenbahnen. Ein Beispiel dafür sind die Martigny-Châtelard-Bahn (MC) und die Bahnstrecke Saint-Gervais–Vallorcine. Technisch wäre diese Anlage von Martigny über Chamonix nach Saint-Gervais-Le Fayet eine Einheit. Entsprechend ist auch ein guter Teil des Rollmaterials auf der gesamten Strecke kompatibel, womit Direktzüge technisch möglich wären. Allerdings ist nicht alles, was technisch machbar ist, auch politisch erwünscht. Das „Schlaue (Internet-)Buch“ Wikipedia meint dazu: „1985 fanden deshalb Versuchsfahrten mit den Schweizer BDeh 4/4 bis nach Saint-Gervais-Le-Fayet statt. Trotz der erfolgreichen Testergebnisse scheiterte der Einsatz der Schweizer Fahrzeuge am Protest der französischen Gewerkschaften, da das Personal eine Übernahme durch die Schweizer MC befürchtete.“ So kommt es, dass im Normalbetrieb der Zugreisende in Vallorcine umsteigen muss. Ein Umstand, den wir mit Wanderausrüstung wohl weniger negativ spüren als Skifahrer im Winter oder Reisende mit viel Gepäck.
Der Umstieg in Vallorcine.
Die Eisenbahnstrecke(n) sind auch eisenbahngeschichtlich spannend. Chamonix selber wurde von St. Gervais her 1901 erreicht, während die Strecke von Martigny nach Le Châtelard 1906 eröffnet wurde. Im gleichen Jahr wie auch die Weiterführung von Chamonix nach Argentière. 1908 folgte mit der Strecke Argentière-Le Châtelard der Schlussteil, der eine durchgehende Strecke schuf. Nachdem Chamonix bereits ab Winter 1905/06 von St. Gervais aus erreicht werden konnte, wurde der Winterfahrplan ausgedehnt. Seit dem Winter 1935/36 sind alle Streckenabschnitte ganzjährig befahrbar. Doch nun genug der Eisenbahngeschichte. Bereits kommt der Hauptbahnhof Chamonix ins Blickfeld.
Herausforderungen an der Talstation zur Aiguille du MidiVon dort ging es noch eine Station mit dem Zug weiter bis „Chamonix-Aiguille du Midi“. Ab diesem Bahnhof sind es nur wenige Minuten bis zur Talstation. Dort angekommen staunten wir über die riesige Warteschlange, die sich über den Platz vor der Talstation ausbreitete. Glücklicherweise hatten wir im Voraus den Reservationsdienst genutzt, sodass wir fix für die Fahrt Nr. 46 (um 12.55 Uhr) gesicherte Fahrplätze hatten. Ansonsten hätte es wohl noch mindestens eine Stunde länger gedauert. Angeblich sollen Wartezeiten von bis zu 4.5 Stunden für eine Fahrt an schönen Sommertagen nicht selten sein.
Interessant ist auch der Umstand, dass angesichts der Terrorgefahr Sicherheitsmassnahmen ergriffen wurden. Jeder einzelne Gast muss aktuell einzeln mit geöffnetem Rucksack an einem Sicherheitsmann vorbei, welcher einen Blick darin wirft und das Gepäck abtastet. Die Anschläge in letzter Zeit haben speziell auch bei touristischen Betrieben einige Spuren hinterlassen. Auch wenn es der Sicherheit dient, hat es doch den unangenehmen Nebeneffekt, dass es schlagartig wieder an die Terrorgefahr erinnert. Damit wird ein Ziel der Terroristen – die Schaffung einer Bedrohung einer permanenten Bedrohungslage in den Köpfen der Bevölkerung – unabsichtlich erreicht. Ich verzichte deshalb auch auf ein Bild dieser Kontrolle.
Aus Sicht der Sicherheit wohl gefährlicher erachte ich hingegen die fehlenden Perronabschrankungen in der Tal- und Mittelstation. Es scheint mir geradezu grobfahrlässig, dass die wartenden Personen bei der Kabineneinfahrt direkt im Gefahrenbereich stehen. Dies vor dem Hintergrund, dass an einem Tag wie diesen ca. 5000 Gäste auf die Aiguille du Midi befördert werden und entsprechend ein Gedränge herrscht. Bei kleineren oder schwach frequentierten Pendelbahnen dürfte eine fehlende Perronabschrankung weniger ins Gewicht fallen. Doch bei einer Luftseilbahn mit solchen Dimensionen wird eine starke Gefahrensituation für den Gast geschaffen.
Ein Blick in die GeschichteDie Bahnfahrt selber ist ein spezielles Erlebnis. In rascher Fahrt bewältigen wir mühelos 1278 Höhenmeter bis zum Erreichen der Mittelstation Plan de l’Aiguille. Von dort genossen wir eine wunderbare Aussicht auf den Glacier des Bossons, welcher sich vom Mont Blanc bis auf die Höhe von ca. 1400 m.ü.M. hinuntererstreckt und damit ein eindrückliches Bild bietet. Zugleich gewährt die Aussicht einen Blick auf die zweite Sektion der Vorgängerbahn. Deren Geschichte dürfte den meisten im Forum bestens bekannt sein. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war die Errichtung einer Luftseilbahn in drei Sektionen von einem Vorort Chamonix über die Zwischenstationen „La Para“ und „Gare des Bossons“ zum Col du Midi auf ca. 3600 m.ü.M. geplant. Nachdem die eigentlichen Bauarbeiten 1910 begannen, verzögerten sich diese, sodass die Bahn – oder wenigstens deren erste Sektion – nicht, wie ursprünglich erhofft, auf Sommer 1914 eröffnet werden. Dies erwies sich als fatal, weil die Bauarbeiten in bereits fortgeschrittenem Zustand nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs eingestellt werden mussten. Jahrelang ruhten die Arbeiten. Die schwierigen Umstände – finanzielle Fragen, technische Änderungen vom ursprünglichen Konzept – führten dazu, dass die erste Sektion erst 1924 eröffnet wurde (nach einem provisorischen Betrieb im vorhergehenden Winter). Die zweite Sektion folgte 1927.
Ein Blick auf den Glacier des Bossons mit der Station „Les Glaciers“ der alten Bahn.
Während der folgenden beiden Jahrzehnte wurde immer wieder ein neuer Anlauf genommen, um auch die dritte Sektion zu verwirklichen. Nachdem die eigentlichen Bauarbeiten 1938 mit der Errichtung einer funktionsfähigen Materialbahn zur projektierten Zwischenstütze auf 3025 m.ü.M. Trotz des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs 1939 weitergearbeitet, sodass eine weitere Materialbahn 1940 den Col du Midi auf der Höhe von 3605 m.ü.M. erreichte. Verschiedene Zwischenfälle verzögern die Arbeiten. Am Morgen des 16. Februar 1945 wurden die fertiggestellten Sektionen und die beiden Materialbahnen sogar in den Krieg selber involviert. Um das Vorrücken der Franzosen nach Italien über Chamonix-Courmayeur zu verhindern, begab sich eine Truppe Deutscher Soldaten vom „Refuge Torino“ unterhalb der Punta Hellbronner über die Gletscher Richtung Col du Midi, wo 25 französische Aufklärungs-Skisoldaten in einem riesigen Iglu stationiert waren. Von diesen alarmiert begab sich Leutnant Jacques Rachel mit fünfzehn weiteren Soldaten mit diesen Bahnen auf den Gletscher. Dort begaben sie sich auf den Gletscher und konnten die Deutschen Soldaten, welche in einer achtfachen Übermacht heranrückten, überraschen. Zusätzlich unterstützt wurden sie durch den Piloten Guiron, der von seinem Flugzeug aus Granaten abschoss. Ein Franzose und acht Deutsche starben bei diesen Kampfhandlungen. Nach dem Krieg wurden die Bauarbeiten offenbar nicht mehr aufgenommen. Verschiedene Streitfragen, speziell zur Bauweise, lähmten das Vorhaben. Auch ist zu beachten, dass die beiden existierenden Sektionen technisch weit veraltet waren. Bereits optisch erinnerten sie bereits bei ihrer Fertigstellung 1924/27 eher an Vorkriegsanlagen wie die Vigiljochbahn (1912) als an zeitgenössische Pendelbahnen (Hafling 1924, Tiroler Zugspitzbahn 1926), welche gemäss dem System Bleichert-Zuegg mit stärkerer Abspannung errichtet worden waren. Es war daher wohl absehbar, dass mit der Fertigstellung der dritten Sektion ohnehin ein Neubau der unteren Sektionen unumgänglich wird. 1948 wurde der Bau der dritten Sektion endgültig begraben. Parallel dazu kam die Idee auf, von Chamonix über die Plan de l’Aiguille auf die Aiguille du Midi eine komplett neue Bahn zu bauen. 1949 wurde die erste einfache Materialbahn errichtet. Der Bau im Hochgebirge nahm in den folgenden Jahren immer mehr Gestalt an, sodass die erste Sektion 1954 eröffnet werden konnte. 1955 folgt schliesslich die zweite Sektion, welche auf die Aiguille du Midi (3842 m.ü.M.) führt. Im heutigen Zustand präsentiert sie sich nach einer Gesamtsanierung 1991. Ihre Streckenführung und Lage stellt bis heute ein eindrückliches Zeugnis für den Seilbahnbau dar.
Quelle: Pierre-Louis Roy,
L’aiguille du Midi. Un téléphérique au plus près du mont blanc, Glénat 2011
(Fortsetzung folgt)