Cassons Freeride 2010 - zum letzten Mal ?Elf Jahre ist es her, seit ich das letzte Mal diesen Berg, einen der kultigsten Skiberge in den zentralen Alpen, besucht hatte
(-> Bericht). Schon zu dieser Zeit, als ich mich nicht systematisch mit der Faszination von Skibergen befasst hatte, war bei mir intuitiv eine grosse Faszination für diesen Typ von Skiberg vorhanden. Anschliessend habe ich meinen Horizont erweitert, vieles kennengelernt - und Flims nahezu vergessen. Aus der Distanz erschien mir das Gebiet nicht mehr so sonderlich erfahrenswert und spannend. Das hat sich mit dem letzjährigen Tagesbesuch schlagartig geändert, als ich wieder erfahren durfte, wie genial, spannend und stellenweise unkonventionell sich diese Gebiet in einigen Bereichen präsentiert - eigentlich ziemlich untypisch für seine Klassifizierung als "kompaktes Grossskigebiet". Vorab, La Siala und Cassons waren beim letztjähigen Besuch geschlossen, so dass eine gezielten Wiederholung zur höchsten Priorität herangewachsen ist.
Die fragwürdigen Pläne der Bergbahngesellschaft sind einschlägig bekannt. Daher habe ich den Besuch des Gebietes fest an einer Befahrung des Cassonsgrates festgemacht. Am Abend des 16.3. nach intensiven Schneefällen dann die ersehnte Meldung auf der Homepage: "Morgen bei bestem Wetter vermutlich alles geöffnet." Eine dienstliche Reise in den zentralen Alpenraum bot die geniale Chance, einen Urlaubstag voranzustellen und am folgenden Vormittag Flims anzusteuern. Gegen 7 Uhr musste ich erst noch Familienmitglieder zum Bahnhof bringen, bevor ich Flims ansteuern konnte. Die Fahrt lief glatt, so dass ich um 11.45 fertig skibereit auf die Bergbahnkasse zusteuerte ...
"Ab 12.00 Uhr ist die Tageskarte um 13,-- CHF reduziert." OK, kein Stress - dann warten wir bis 12.00 Uhr mit dem Kartenkauf. Zwischenzeitlich sehe ich, dass der Skilift Spaligna heute ausser Betrieb ist. Das ist für mich irrelevant, erscheint mir aber später im Hiblick auf die gesamten Informationen irritierend. Bei der späteren Auffahrt werde ich feststellen, dass am Spaligna bereits die Bügel demontiert sind und sich einzelne Skispuren im Neuschnee bis auf die grüne Wiese durchdrücken. Die gestrige Information mit "alles offen" kann wohl kaum korrekt gewesen sein. Auch werde ich feststellen, dass die schönen Haupthänge unterhalb Naraus geschlossen sind und nicht vernünftig befahrbar. Auch dort drücken sich die Einzelspuren im Tiefschnee auf die Wiese durch. Die Talabfahrt ab Foppa ist ohnehin als geschlossen gekennzeichnet. Immerhin sollten der Ziehweg Naraus-Stratgels-Foppa und die Skiroute 72 bis Foppa geöffnet und gut befahrbar sein. Letztere ist für meinen Skitag von Bedeutung.
Die Hänge weisen eine Neuschneeschicht bis zur Talstation auf und die Bäume tragen ebenfalls Neuschnee, teilweise bis ins Rheintal herunter. Jetzt ist es eine Minute vor 12 Uhr und ich schreite zum Skipasskauf. Die zunächst zu benutzende 3KSB Foppa ist wie zwei weitere KSB in diesem Gebiet mit Skiköcher ausgestatttet und ohne angeschnallte Skis zu benutzen. Dies bringt irgendwie ein merkwürdiges Gefühl mit sich. Dennoch ist es schön, über die sanften Wiesen und die Ausläufer des Dorfes zu schweben. Rechts oberhalb grüssen bereits die weiten Freeridehänge des Cassonsgrates.
In der 4KSB Naraus sind nur wenige Sessel eingehängt und das Gebiet wirkt menschenleer und ausgestorben.
Ohne befahrbare Hauptpisten führt der Sektor im Spätwinter ein Schattendasein. Die wenigen Fahrgäste sind Fussgänger, Cassonsgratbesucher sowie in der Früh einige Leute, welche die Liftkette via Foppa - Naraus - Ziehweg Startgels - Grauberg als alternativen Einstieg ins Skigebiet nutzen. Wenn das Gebiet nach langen Sonnenperioden grün ist, dann passt es auch, dass man kaum Skifahrer sieht. Heute aber ist das Ambiente winterlich und das Fehlen von Skifahrern wirkt kurios.
Eine andere Sache beunruhigt mich aber zunehmend: Seit Beginn der Fahrt habe ich keine Kabine der Cassonsbahn am Seil gesehen. Was ist da los? Ist der Betrieb eingestellt? Sturm in den Hochlagen? Lawinengefahr durhc die Erwärmung? Extrem langer Takt wegen mangelnder Nachfrage? Immerhin erblicke ich plötzlich schwarze Punkte im Hang, die sich bewegen. Also muss die Bahn im Laufe der letzten halben Stunde gefahren sein. War dies der letzte Personentransport für heute? Ich werde nervös. Sollte ich mit meinem Vorhaben so kurz vor dem Ziel gescheitert sein?
Ich nähere mich allmählich der Station Naraus. Sollte die Bahn wirklich laufen, dann kann die Kabine jetzt bitteschön auch noch auf mich warten. - Ja halt! Bin ich denn von Sinnen? Bin ich denn nie zufrieden und muss ich auch noch Ansprüche stellen? Ich erschrecke über mich selbst. Drehen wir das Rad um einige Gedanken zurück: Mir ist völlig egal, wann die Bahn fährt. Hauptsache, die Bahn fährt noch irgendwann heute. Und bis dahin geniesse ich diesen für ein Skigebiet recht einsamen Sektor Berg- und Infrastrukturwelt. Jetzt bin ich wieder in der Spur!
Kaum zu Ende gedacht, kommt die Cassonsbahn voll ins Blickfeld und die Kabine verlässt die Station. Ich bin begeistert!
Aufs Neue fasziniert mich die toll trassierte Bahn ...
... mit den schlichten Stationen.
Schnell füllt sich der Vorplatz der Station mit ca. 10 Personen, die nach Einfahrt der Kabine gnaz gemütlich zum Perron schlendern. Hektik kennt hier niemand. Ich komme mit einem Freerider aus Polen ins Gespräch, der zum ersten Mal in der Schweiz ist und sich wundert, dass auf den Pisten so wenig los ist (im Vergleich zu Österreich). Ich frage ihn nach Zakopane. Er schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. "It's horrible", meint er. "It's really horrible." Extrem teuer und mangelnde Attraktivität kreidet er der polnischen Vorzeigedestination vor allem an und empfiehlt mir St. Anton.
Wenige Minuten später haben sich ca. 15 Personen in der 26+1-Kabine eingefunden und der betagte Kabinenführer fordert die Abfahrtsfreigabe an. Die Fahrt ist ein Erlebnis und kommt mir sofort wieder vertraut vor. Die kleine Kabine hat ein ganz eigenes Fahrgefühl mit sanften Schwingungsbewegungen. Sehr lang ist die Bahn und fährt mit konstanten 8 m/s ungebremst über die gesamte Strecke.
Man blickt auf die etwas eintönig aussehenden, leicht verspurten Skihänge, die aber in ihrer Weite, und mit Idealgefälle ausgestattet, eindrucksvoll sind.
Dann kommt der spanndene Moment. Würden sich die "Markenzeichen" der Strecke zeigen ? (Was sie aber in der Regel tun). Die Antwort kommt spät, aber sie kommt.
Ich frage den Kabinenführer nach der Zukunft der Cassonsbahn: "Bis Sommer 2011 läuft sie sicher, was danach kommt, interessiert mit nicht, da bin ich in Pension. Ich habe jetzt noch genau 7 Arbeitstage bis zur Pensionierung." Der sehr junge Kabinenführer der anderen Kabine, den ich beim zweiten Mal befrage, sagt: "Bis Sommer 2011 läuft sie sicher, was danach kommt, ist völlig offen. Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen."
Nach einer langen, aber kurzweiligen Fahrt kommt die Bergstation ins Blickfeld. Das Restaurant ist bekannt für seine Qualität bei günstigen Preisen. Ich erfahre, dass es in dieser Saison nicht geöffnet war. Technische Defekte mit langen Reparaturzeiten haben zunächst keinen Betrieb zugelassen, den man anschliessend "praktischerweise" auch ganz hat sein lassen. Eine Stufe im Prozess des "sterbenden Berges"?
An der Bergstation wird unmissverständlich signalisiert, wo sich das gesicherte Gelände befindet.
Hier wird klar, dass sich die beförderten Personen in vier Kategorien aufteilen.
1. Freerider, die den gefordeten Aufstieg zum Gipfel meiden und trotz (für mich) intransparenter Lawinensituation direkt in den Hang queren.
2. Ausflügler, die nur schauen wollen (und teilweise auf das geöffnete Restaurant gehofft hatten)
3. Skifahrer, die nach den gewalzten Pisten fragen und nach erfolgtem "Aha-Effekt" verstört wieder zurück in die Kabine gehen.
4. Leute wie ich, die sich "brav" an die offizielle Route halten und den erforderlichen Aufstieg von 2.700 m auf 2.760 m zum Gipfel in Angriff nehmen.
Für mich ist dieser Aufstieg keine Last, sondern Bestandteil des Erlebnisses Cassonsgrat. Heute sollte das für mich ein Erlebnis in relativer Einsamkeit sein. Beim ersten Mal folgen mir 4 Snöber in grossem Abstand. Beim zweiten Mal werde ich ganz alleine auf dem verblasenen Höhenrücken sein.
Links oben signalisiert die Fahne das Ende des kultigen Aufstiegs, der mit einem steilen Trampelpfad beginnt.
Zurück Blickt man von oben auf die ebenfalls sehr schlichte Bergstation.
Im flacheren, oberen Teil wird es zusehends stürmisch und verblasen. Die Spuren der Vorgänger sind zugeweht, man kann aber oft auf die kraftsparenden Felsen ausweichen.
Der einsame Marsch über den Höhenrücken mit dem auffrischenden Wind sind für mich ein echtes Erlebnis. Hier steht man mitten in der Natur und "hoch über den Dingen". Dieser Ort hat einen genialen Charakter. Trotz deutlicher Zivilisationsspuren am Gipfel fühlt man sich wie in einer anderen Welt. Und es wirkt so untypisch für ein Massenskigebiet.
Die Einfahrt in die beiden offiziellen Routen, die zunächst auf gleichem Weg verlaufen, ist vom Sturm gezeichnet.
Nach der Querfahrt geht es in den ersten Hang. Die Schneeverhältnisse sind nicht ideal. 30 cm Neuschnee sind teilweise verspurt und leich pappig. Die Buckel der Schneelage vor dem Neuschnee sind beim Fahren zu spüren.
Bei der Verzweigung hat man die Wahl: Rechts zur Segneshütte (71), links zurück nach Naraus (70) oder Foppa (70-72).
Ich halte mich bei meiner ersten Abfahrt links, wo der lange, steile Bereich beginnt. Talwärts weit unten erkennt man an den Spuren die nächste Verzweigung: Links zurück nach Naraus (70), in der horizontalen Bildmitte die Route nach Foppa (72), die unten rechts an dem grösseren Wald vorbei führt.
Die Pistenmarkierungen tragen die SOS-Rufnummer.
Inziwschen finden sich auch nahe der Markieungen unverspurte Stellen. Die feuchten 30 cm Neuschnee würden sich prinzipiell ganz gut fahren lassen, aber die Buckel darunter drücken immer wieder seitlich an die Skis, was viel Konzentration erfordert.
Von unten blicke ich zurück auf den Haupthang.
Ich habe mich für die Route bis hinunter nach Foppa (72) entschieden, wo nur ganz wenige Spuren den Neuschnee zieren.
Eine erneute Auffahrt Foppa-Naraus-Cassons führt mich auf die Segnes-Route, welche sich dem zentralen Beriech des Skigebiets zuwendet und an der Segnes-Hütte auf die gewalzte Grauberg-Piste trifft.
Auch hier sind weniger Spuren als auf der Cassons-Hauptroute. Zwischen den abgewehten Höhenrücken liegt genügen Schnee in der Route.
Hier hat man den besten Blick auf die skurrilen Tschingelhörner (in Richtung Norden).
In Richtung Südwesten blickt man in die unglaublich weite "Schneewüste" der "Weissen Arena".
In Richtung Westen blickt man während der Schussfahrt in der schmalen Spur genau auf den gegenüberliegenden Steilhang der "Siala-Ost" sowie auf die La-Siala-Bergstation rechts oben.
Es folgt der vorletzte ernstzunehmende Hang in schöner Muldenlage. Gegenüber liegt am Horizont in der Bildmitte die Bergstation Mutta-Rodunda mit schwarzer Piste zum Grauberg.
Vor dem letzten Hang kommt die Segneshütte ins Blickfeld, die in einer wahren Steinwüste gelegen ist. Die erhabenen Grauberg-Felswände sieht man hier ungewohnterweise von oben.
Über Steilhang und Bergrücken fährt man auf einen interessanten Findling zu.
Zurück blickt man auf den letzten steileren Hang, den man gerade absolviert hat.
Die Grauberg-Seilbahn werde ich als nächstes nehmen, um mich in Richtung Vorab-Gebiet zu hangeln ...
... Doch zunächst ist die letzte Passage der Route, der Anstieg zur Segneshütte, zu bewältigen.
Zunächst will ich einer Einzelspur folgen, stelle dieses Vorhaben aber schnell ein, als ich merke, dass das Gelände lawinös ist und von Felsspalten durchsetzt. Teilweise ist der Fels knapp unter den Skis und teilweise gibt es riesige Löcher unter der Schneeschicht. Also schnell zurück zur sicheren Route queren, was auf den letzten Metern gar nicht so einfach ist. Ich muss im Schnee 2 Meter fast senkrecht hinauf, wozu ich mir Trittstufen im Schnee verfestigen muss und eine spezielle Skistock-Teschnik erfinden muss. Halb klettern und halb robbend bin ich endlich oben. Wäre ich nur oben bei den Markierungen geblieben ...
Endlich erreiche ich die Hütte.
Eine Flasche Rivella gibt die Möglichkeit, den Cassons-Haupthang nochmals zu studieren.
Zeitsprung: Über die Grauberg-PB und die Mutta-Rodunda-6KSB komme ich zur La-Siala-3KSB. Mein Plan sieht vor, noch bis zum Vorab zu queren und zum Abschluss die 1.900-Höhenmeter-Piste nach Flims abzufahren (33-30-18).
Auch die Querung von La Siala zum Vorab auf der Rückseite des Berges (28) ist Kult. Man blickt tief hinunter ins Glarnerland und aus der Flugzeugperspektive auf das Elmer Skigebiet Alp Empächli.
Am Vorab zeigt sich, dass ich die Rechnung ohne den (Weisse-Arena-) Wirt gemacht habe. Es ist 15.25 Uhr und die Schlepplifte haben seit 15.15 Uhr geschlossen.
So mache ich aus der Not eine Tugend und disponiere um. Nach der Querfahrt geht es nochmal auf La Siala hinauf, um von dort eine abwechslungsreiche 1.700-Höhenmeter-Abfahrt in Angriff zu nehmen. Diese führt mich zunächst über die Siala-Ost (10) mit dem gewohnt perfekten Pulverschnee.
Ich quere unten hinüber nach Nagens und steche ich die Route Platt' Alva (74), die wunderschön durch eine Mulde in den Felsen hinunter nach Startgels führt.
Ich bin wieder völlig alleine in der Route, die bald in den Nachmittags-Schatten eintaucht. Der Schnee wird jetzt sehr gewöhnungsbedürftig. Der stark angetaute Neuschnee bekommt wieder ein leicht gefrorene Kruste, die Schneefläche wechselt zwischen vereinzelt und stark verspurt, der Untergrund ist präsent und unterschiedlich.
Ich blicke zurück in den Felsdurchlass, durch den die Route steil nach unten führt.
Die Zivilisation in Form der Station Startgels kommt näher ...
... und eine entspannende, flache Piste (10) führt nach Flims zurück.
Fazit: Flims hat wieder einmal eindrucksvoll seine Klasse gezeigt. Die Landschaft und Weite, die extrem unterschiedlichen Charaktere in den verschiedenen Bereichen sind ein besonderes Merkmal dieses Gebiets. Der Charakter ist aus meiner Sicht ausgeprägter als bei anderen Gross-/Massenskigebieten. Zumindest solange es die Cassonsbahn noch gibt, ist das hier eine ganz grosse Nummer in den Alpen. Ganz deutlich wird dies auch im Vergleich zu den von mir an den Folgetagen besuchten Gebieten: Pizol, Flumserberg und die Silvretta Nova sind mit diesem hier in keinster Weise zu vergleichen. Flims-Laax ist eine andere Nummer und bezüglich Attraktivität meilenweit entfernt. Wobei ich feststellen muss: Der Pizol bietet eine Panorama-Erfahrung, die man sich durchaus mal gönnen kann, und Flumserberg weist neben den fragwürdigen und überfüllten Hauptachsen auch einige kleine Juwelen in Form klasse trassierter Abfahrten auf. Die Silvretta Nova wiederum ist eines der "blassesten" Skigebiete, die ich kenne. Man kann dort Ski fahren. Aber: Herausragende Geländekammern, Panoramen oder Pisten? Fehlanzeig! Zwei Routen bieten ansatzweise Attraktivität in der Trassierung. Das wars dann. Ausgesucht habe ich mir die Nova nicht, aber dort war ein Treffen mit Kollegen.
Hauptsache, ich habe Flims nochaml gesehen, solange es den Cassonsgrat in dieser Form gibt. Das war mir wichtig und viel wert.