Wilde Wasser im Tessin und Piemont
Wildwasser im Sommerschiforum
? An manch anderer Stelle würde mir dafür wohl bestenfalls Unverständnis entgegengebracht, wahrscheinlich aber eher lautstarker Protest. Ehrlich gesagt wäre ich auch nie auf die Idee gekommen, hier von dieser, „meiner“ Sportart zu berichten. Vor einiger Zeit aber schilderte ich Trincerone relativ schwärmerisch meine Eindrücke aus dem Maggiatal. Klar, dass dabei auch das Kajakfahren eine Rolle spielte! Es folgte der Vorschlag von ihm, auch mal hier im Forum von meinen Touren zu berichten.
Es hat lange gedauert bis ich nun endlich ein bisschen Zeit und Muße gefunden habe und den Versuch wagen will, von den Alpen aus der Kajakperspektive zu erzählen. Ganz ohne die klassischen Themen dieses Forums zwar, aber vielleicht trotzdem für den einen oder anderen interessant.
Ich will Euch hier nicht mit ausführlichen Reiseschilderungen langweilen, sondern eher Momentaufnahmen bieten und ausgewählte Erlebnisse schildern. Da ich normalerweise für Paddler schreibe, kann es passieren, dass sich trotz aller Bemühungen ein paar Unverständlichkeiten eingeschlichen haben. Vorab vielleicht noch ein paar grundlegende Dinge.
Hier geht es um die „extreme“ Form des Wildwasserfahrens, wobei „extrem“ natürlich immer Ermessenssache ist. Kajakfahren ist aber natürlich viel mehr, vom Kajakfreestyle über Flusswandern bis hin zum leichten Wildwasser. Ich selbst sitze seit meiner Kindheit im Kajak und bin vorwiegend im Wildwasser unterwegs, von leicht bis schwer. Insgesamt gibt es hier sechs Schwierigkeitsgrade, von unschwierig (1) bis zur Grenze der Befahrbarkeit (6). Und noch ganz wichtig: Wildwasserpaddler (und Paddler generell) gehen paddeln oder bootfahrn, aber nie rudern
!
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Das Tessin und Piemont sind für mich eigentlich jedes Jahr Pflichtziele. Nicht nur das Wildwasser, auch die Atmosphäre dieser Regionen schätze ich jedes Mal aufs Neue. Wieder einmal geht es also in der Nacht Richtung Süden, hinauf zum San Bernardino. Schon vor dem Tunnel kämpft sich unser VW-Bus durch den Schneesturm, doch auf der Südrampe kommt es noch dicker: Die Sicht im Flockenwirbel beträgt nur wenige Meter, der Neuschnee türmt sich auf der Straße. Weiter unten geht der Schnee bald in typischen Tessiner Regen über, der lautstark auf uns herunterprasselt.
Als wir am nächsten Morgen aus den Schlafsäcken kriechen (Paddeln heißt eigentlich immer auch Campen) ziehen Wolken und Nebel durch die kahlen Wälder über uns. Der April ist eigentlich noch etwas früh für die Region, aber man kann es sich ja nicht immer aussuchen.
bei Roveredo
Dafür sind die großen Touristenströme noch nicht unterwegs. Das immer wieder schöne Verzascatal haben wir heute ganz für uns. Der „Fluss aus Glas“ ist ein Klassiker, dessen Faszination sich kaum jemand entziehen kann. Die ganz großen Wasserfälle und Rutschen gibt es hier zwar weniger, dafür aber anspruchsvolle Katarakte mit kleineren Stufen und einigen versteckten Tücken und Gefahren.
Unvergesslich bleibt mir eine Befahrung der „Mittleren“ vor einigen Jahren, von der es aber keine Bilder gibt. Die Bedingungen konnten eigentlich kaum schlechter sein. Das ganze Tessin lag trocken, lediglich die unterste und schwerste Teilstrecke der Verzasca konnten wir bei herrlichstem Sonnenschein paddeln.
"Alpinstart" an der berühmten Brücke von Lavertezzo
Satte Farben, schlechter Scan: Die Untere auf Fuji Velvia bei Traumwetter.
Am Abend überlegten wir an unserem Basislager an der Maggia, was wir am nächsten Tag wohl unternehmen könnten. Doch der Tessiner Regen nahm uns die Entscheidung ab. Im strömenden Dauerregen paddelten wir im wie ausgestorben wirkenden Tal die mittlere Verzasca bei hoher Wasserführung (oder "satt Wasser" wie die Paddler sagen
). Alle grellen, leuchtenden Farben fehlten an diesem Tag. Nur wir und der Fluss. Du weißt, dass die entscheidenden Paddelschläge sitzen, du Dich auf deine Freunde vollkommen verlassen kannst. Es ist nass und kalt, aber es ist großartig. Von den Hängen stürzen überall Wasserfälle, Laub wirbelt im Wasser herum. Immer weiter steigt der Pegel, es ist ein heißer Ritt. Am Ende sind wir froh, bis zum Ausstieg gekommen zu sein.
Regentag im Verzascatal
Heute dient uns die Verzasca nur zum Aufwärmen. Über die mühsame Uferstraße am Lago Maggiore fahren wir weiter nach Omegna und von hier ins Sesiatal, für mich eine der faszinierendsten Gegenden der Alpen.
Eine besondere Region, hier zum Beispiel Rimasco am Stausee der Sermenza.
Am Abend darauf sitzen wir in Campertogno zusammen bei Pizza, Wein und Grappa im Warmen. Wieder einmal habe ich meinen Geburtstag bei Kälte und trübem Wetter in einer einsamen Schlucht verbracht, habe mein über 20 Kilo schweres Boot über Felsen geschleift, bin auf glitschigen Felsen herumgeturnt und habe die Anspannung vor schweren Passagen gespürt. Ich bin glücklich damit. Ich habe eigenverantwortlich Entscheidungen getroffen, Erfahrungen ausgespielt, die Kraft des Wassers genutzt und gespürt. Vor allem aber sind wir auch zusammen gepaddelt. Wir haben uns aufeinander verlassen und uns gegenseitig geholfen; Freude und Begeisterung gespürt.
Mangels eines Bilds vom Paddeln (zu schlechtes Wetter und Licht): Trüber Morgen in Campertogno. Nicht gerade motivierende Atmosphäre an diesem Tag.
Im letzten Abendlicht nach einer glücklichen Paddeltour sieht die Welt auch hier gleich wieder ganz anders aus.
Dass draußen der Regen mal wieder unaufhörlich prasselt, stört uns an diesem lustigen und feuchtfröhlichen Abend überhaupt nicht. In der Nacht wird das Geräusch leiser, am nächsten Morgen schneit es bis ins Tal. Alberto, der Wirt, hat Mitleid mit uns, wie wir im Schneeregen unser Müsli löffeln und lädt uns zum Frühstücken in seine warme Stube ein.
Nach einigen Flussbesichtungen und Autofahrten durch verschneite, einsame Täler finden wir an der Sorba schließlich einen Fluss, der den richtigen Wasserstand bietet. Auch das ist eben Kajakfahren, die Suche nach dem passenden Wasserstand (trotz Online-Pegeln). Die Sorba und ihr Nebenfluss Gronda bieten fantastisches, sehr steiles Wildwasser, heute in einer melancholischen Winterlandschaft. Den inneren Schweinehund zu überwinden, fällt an diesem Tag trotz des perfekten Wildwassers nicht ganz leicht.
Bei weniger Wasser und Sonne auf der Sorba
Der Frühling ist zurück, als wir unweit des Lago Maggiore am Rande des Val Grande Nationalparks die Boote in einer wilden Landschaft zum Oberlauf des San Gionvanni tragen.
Wir erleben einen perfekten Paddeltag. Rutschen, Stufen und Wasserfälle in einer einsamen Schlucht erfordern immer wieder das Besichtigen und Absichern von einzelnen Passagen.
Der Traum endet 500 Meter vor dem Ausstieg…. In einer engen Klamm fließt der Fluss hier durch eine so genannte Zwangspassage, das heißt die Stelle muss gepaddelt werden. Zwei Bäume versperren jedoch die Einfahrt, die Stelle ist unbefahrbar, eine potentiell tödliche Falle. Wir müssen die Fahrt abbrechen.
Nicht am San Giovanni, aber ein gutes Beispiel für eine Zwangspassage, wenn auch mit deutlich mehr Wasser und größeren Dimensionen. In der Klamm der Melezza.
Bis zum Einbruch der Dunkelheit seilen wir die Boote aus der Schlucht auf. Nach drei Stunden haben wir erst das erste Boot auf der Straße, die anderen beiden Boote müssen wir über Nacht im Steilhang lassen. Ich bin heilfroh, dass wir wohlbehalten auf sicherem Terrain stehen. Im lehmigen, teilweise nahezu senkrechten Gelände mit losen Felsen, Glasscherben von der Straße und stachligen Maronischalen war die Kletterei und das Aufseilen der Boote eine nicht ungefährliche Aktion. Zu Fuß laufen wir hinunter zum Auto, waschen uns in einem Gumpen im Schein der Stirnlampen den Dreck und Schweiß ab.
Nach der Arbeit...
Durch das nächtlich stille Tal fahren wir hinunter nach Intra, auf der Suche nach etwas zum Essen. Es ist 23 Uhr, als wir schließlich in eine Bar stolpern. Keiner von uns kann italienisch, doch die schon etwas angetrunkenen Gäste dolmetschen für uns. Es ist fast unwirklich. Vor wenigen Stunden paddelten wir über Rutschen und Wasserfälle und kämpften uns einen steilen Hang im Niemandsland hinauf. Jetzt sitzen wir in einer eigentümlichen Spelunke und stopfen Tiefkühlpizza mit Käseklumpen in uns hinein, im Fernsehen läuft Champions League. Auch das ist Paddeln.
Durch die Nacht geht es wieder ins Tal hinauf, gespenstisch strahlt der Mond über einem Friedhof. Wir übernachten direkt an der Straße, auf der wir am nächsten Morgen im Licht der ersten Sonnenstrahlen auch frühstücken. Anschließend bergen wir die beiden anderen Boote und machen uns auf den Heimweg am mittlerweile richtig frühlingshaften Lago entlang. Bis zum nächsten Mal.
Ein kleiner Nachtrag noch:
Die letzte Geschichte war auch für mich in meiner „Paddelkarriere“ einmalig. Noch nie musste ich vorher eine Fahrt abbrechen. Wildwasserpaddeln ist grundsätzlich weder extrem gefährlich noch unkalkulierbar, aber wie bei jeder Natursportart (und eigentlich immer im Leben) bleibt ein Restrisiko. Kleine und große Abenteuer wie die Beschriebenen erlebt man beim Paddeln aber immer wieder. Und genau das macht für mich auch den Reiz dieses Sports aus, der für mich viel mehr als ein Sport ist.