10.3.2007 Liddes-Les Vichères
Wie im Märchenland – oder: Was brauchts zum Skifahren wirklich?
Die Anreise erfolgte am 10.3. frühmorgens aus dem Rhein-Main-Gebiet. Wir hatten keinen Stress und uns bewusst kein grosses Skigebiet für den Anreisetag vorgenommen. Allerdings hatte es auf der A5 keinerlei Verkehrsaufkommen, der Tempomat war auf 160 km/h eingestellt, der Autopilot war eingeschaltet, ich konnte schön ausruhend die A5 nach Süden düsen und kam unglaublich schnell vorwärts, so dass sich im Bereich Fribourg dann schon um 9.00 Uhr die Frage stellte: Wohin heute? Ursprünglich war Gr. St. Bernard vorgesehen, aber am Alpenhauptkamm war Sturm gemeldet und es erschien uns bei Betrachtung der sich auflösenden Wolken möglich, dass sich am Alpenhauptkamm noch dergleichen beharrlich hielten (was sich später als richtig erweisen sollte). Eine Alternative war Ovronnaz. Dieses Gebiet liegt deutlich nördlich vom Alpenhauptkamm und die Lifte gehen nicht ganz bis auf die Crêtes hinauf, so dass dort grundsätzlich besseres Wetter und weniger Wind zu erwarten waren. Andererseits wussten wir, dass der St. Bernard wohl nicht mehr gemacht würde, wenn wir das heute nicht in Angriff nähmen. Ich hatte mir die Telefonnummern aller infrage kommenden Liftgesellschaften notiert und so rief ich oben am Bernard an: Télécabine in Betrieb? Ja! Alle Pisten geöffnet? Nein, Tunnelpiste ist geschlossen. Wird die im Laufe des Tages eventuell geöffnet? Nein, bleibt für den ganzen Tag geschlossen. Habt ihr keine Probleme mit dem Wind? Nein, der Betrieb soll aufrechterhalten werden. Piste Italienne geöffnet? Ja! Also kurze Beratschlagung und dann die Entscheidung: Super Saint Bernard!
Jetzt wage ich mich mit meiner verrückten Idee aus der Deckung: Lass uns den Skitag in Les Vichères beginnen! „Hab zwar keine Ahnung, was oder wo das ist, aber nix dagegen“, antwortet Snowotz. Er vertraut mir vollkommen und freut sich darauf, dass ich ihn in bis dato unbekannte schöne Skigebiete mit Vollbeschneiung und einer Vielzahl von KSB führe.
Hinter Martigny bietet sich dann das insgeheim erwartete Bild mit der Föhnwalze am Alpenhauptkamm und es bestätigt sich die Vermutung, dass es in der Nacht 10 cm Neuschnee gegeben hat.
^^ Strasse von Martigny zum Gr. St. Bernard
Jetzt stellt sich die Frage, wie ich eigentlich auf die Idee komme, zunächst nach Les Vichères zu fahren. Dafür gibt es mehrere Gründe: Ich hatte schon von Anfang an die Idee, einem der Kleinskigebiete in der Region einen Besuch abzustatten und Les Vicheres meldete formal die besten Bedingungen und hat die höchste Bergstation. Ausserdem liegt es von allen am nächsten zur St-Bernard-Strasse und es gibt noch einen ganz handfesten Grund: Vichères hat einen gemeinsamen Skipass mit S. St. Bernard, aber die Preise sind kurioserweise unterschiedlich. Während die gemeinsame Tageskarte am Bernard 37,-- CHF kostet, so kostet sie in Vichères nur schlappe 31,-- CHF. Also – so dachte ich mir – warum nicht 6 CHF sparen und ein zusätzliche Gebiet kennen lernen. Diese Preisgestaltung erschien mir im Internet so kurios und zwiefelhaft, dass ich per Mail noch mal nachgefragt hatte. Aber mir wurde von Télévichères bestätigt „Nos cartes journalières sont également valable à la station Super Saint Bernard“. Sicherheitshalber fragte ich auch noch mal die sehr junge Dame an der Kasse in Les Vichères, aber die bestätigte das glücklicherweise auch. Auf jeden Fall wusste ich: Die Chance, dieses Gebiet zu besuchen hast du vielleicht nur heute. Wann fährt man sonst in ein solches Gebiet wenn nicht unter diesen Rahmenbedingungen?
Ansonsten hatte ich keine so rechte Vorstellung von dem Gebiet. In Liddes, etwa 10 km vor S. St. Bernard, zweigt die Strasse rechts ab und nach kurzer Taldurchquerung fährt man am Gegenhang etwa 300 Höhenmeter auf einem schmalen Bergsträsschen aufwärts. Hier hatten wir dann erstmals (und letztmals) eine frisch verschneite Winterlandschaft:
^^ Strässchen zum Skigebiet von Les Vichères
Bereit von Liddes aus hatte man gesehen, dass das Skigebiet noch in Wolken lag. Im gegensatz zum St. Bernard hatte ich hier aber die Hoffnung, dass die Sonne es schaffte, diese Wolken aufzulösen.
Hier jetzt zur allgmeinen Orientierung erst mal der Pistenplan:
^^ Pistenplan – zum Vergrössern in besserer gif-Qualität bitte anklicken
Den Ort Vichères durchfährt man nicht direkt (sofern es den überhaupt gibt), die Strasse führt direkt zum Parkplatz der Seilbahn auf 1595 m Höhe. An der Talstation bot sich dann dieses Bild einer uralten Städeli-DSB im Originalzustand (soweit ich das beurteilen kann) du einer dürftigen Schneesituation.
^^ Talstation DSB Chapelet
Die Eindrücke der Talabfahrt haben uns erst mal erschreckt. Die hier sichtbare Talabfahrt wurde immer wieder von Skifahrern befahren; diese schnallten ausnahmslos 100 Meter vor der Talstation die Ski ab, weil sie „auf Grund“ gefahren waren und trugen die Ski runter. Wir konnten auch keine andere Talabfahrt erkennen, was mich erstaunte weil die Pistenbedingungen auf der Homepage mit 20-100 cm und guter Qualität bis ins Tal angegeben waren. Glücklicherweise war dies korrekt und wir erkannten die wirkliche Situation erst später: Was man hier sieht, ist die schwarze Talabfahrt, die in diesem Bereich von unten aus gesehen links verläuft. Rechts daneben (s. Pistenplan) verläuft die blaue und die war vom Schnee her gut bis runter. Nur sieht man die vom DSB-Einstieg aus nicht, weil sie oberhalb einer Stützmauer verläuft und endet. Oberhalb der Pistenkreuzung waren beide Talabfahrten gut bis sehr gut vom Schnee her. An der Talstation waren einige Familien beim Skipasskauf und Sesselbahneinstieg und bereits hier ging alles ganz ruhig und leise zu – fast ein wenig gespenstisch.
Jetzt halte ich mal mehr die Klappe und lasse die Bilder sprechen.
^^ Niederhalter in Minimalausführung
^^ Blcik zurück mit dürftiger Schneelage auf der schwarzen Piste, die blaue weiter links sieht man hier nicht.
^^ Nach 1/3 Fahrstrecke gibt endlich schönen Schnee, etwas Baumstand und die nahemde Wolkendecke oben
^^ Nach ½ Fahrstrecke bei Eintritt in die Wolkendecke plötzlich der erwünschte Effekt: Luftdruckerhöhung mit langsamer Auslösung der Wolken. War ein sensationeller Anblick in Verbindung mit dem frisch verschneiten Einzel-Baumbestand. Gepaart mit der himmlischen Ruhe war das erstmals „Märchen-Feeling“
^^ Man sieht förmlich wie sich die Wolken auflösen und erste Begegnung mit den zahlreichen Tourengehern hier
^^ Bei Ankunft an der Bergstation waren alle Wolken weg und der offenbar einzige Pistenbully begrüsst uns. Dieser liefert nicht die inzwischen zur Gewohnheit gewordene „Cordsamt-Qualität“ ab – einige Schneeschollen zieren die Pisten. Rechts oben auf dem Bergrücken sieht man den Tellerlift „La Vuardette“. Ich finde es gar nicht so unklug, die Sesselbahn unterhalb des Rückens enden zu lassen und den Schlepplift dann rauf zu ziehen. Dies könnte für den Betrieb bei Starkwind von Vorteil sein.
^^ Snowotz im Vuardette-Lift bei bestem Pulverschnee und guter Laune. Ganz links sieht man die Hütte, welche das Restaurationsbedürfnis der Gäste abdeckt – völlig unspektauklär.
^^ Pulverschnee, blütenweisse Wolkenfetzen, verschneite Bäume, keine Menschen: Märchenlandschaft
^^ Blick in Richtung St. Bernard: Wie erwartet sind die Wolken dort hartnäckiger (Alpenhauptkamm)
^^ Nach oben wird der Lift immer flacher und links kommt der Bügellift La Chaux ins Blickfeld. Die beiden Schlepplifte spannen ein vielfältig befahrbares Skigelände mit einer Fläche von mehr als 2 km² auf.
^^ Blick zum unteren Teil des La-Chaux-Liftes
^^ Snowotz als einziges (dafür sehr schnelles) Wesen auf der breit präparierten und mit einigen Schollen garnierten Piste, die selbstverständlich ohne jegliche Remodellierung dem natürlichen Geländeverlauf folgt. Tief unten das Tal zum Gr. St. Bernard.
^^ Im La-Chaux-Lift sieht man das weite Skigelände mit vielen Pistenvarianten und Tiefschneemöglichkeiten. Der Tiefschnee war allerdings bedingt durch einige Triebschneeansammlungen nicht ganz einfach zu fahren.
Nutzen wir die Liftfahrt, um eine erste Bilanz zu ziehen: Auffallend ist der fast schon exzessiv minimale Aufwand, der hier betrieben wird, um die Dienstleistung Skibetrieb bereitzustellen. Eine Sesselbahn, die offenbar läuft und läuft und läuft ... Eine Pistenmaschine, die die Pisten gerade so ins Gelände legt, wie sich’s anbietet ohne den Anspruch auf Perfektion; selbstverständlich keine maschinelle Beschneiung; ein kleines Berggasthaus ohne Partyschirm. Und obendrein keinerlei Pistenbeschilderung. Es gibt ein paar Stangen als Pistenrandmarkierung und das war’s dann. Das Publikum sind Familien und Tourengeher. Eigentlich faszinierend! Falls das hier langfristig funktioniert, dann könnte dieses Modell eine Alternative zum Wettrüsten unter den Kleingebieten sein, bei dem ich nicht weiss ob das für die Gebiete finanziell erträglich ist. Man fühlt sich zurückversetzt in die 70er Jahre und stellt auf einmal fest, was man streng genommen zum Skifahren eigentlich nicht braucht. Sicherlich kein Skigebiet für immer, aber allemal eine sehr interessante Erfahrung. Was das Skigebiet jedoch wohltuend vom Zustand der Gebiete in den 70er Jahren unterscheidet: Kein Betrieb, da die Leute woanders hin fahren. In den 70er Jahren musste man sich überall auf Wartezeiten einstellen. Nochmal zur Erinnerung: Diese Bilder zeigen einen Samstag!!
^^ Blick auf die Pisten links des Liftes und einen schönen Felsberg.
^^ Snowotz in Aktion
^^ Nochmal der Vuardette-Lift – diesmal von oben; wird nach unten hin immer steiler
^^ Bergstation La Chaux mit Blick in Richtung Mont-Blanc-Gebiet.
^^ Tourengeher
^^ Schöne Piste in Muldenlage links vom Bügellift La Chaux
^^ Weites Skigelände.
^^ Vuardette
Nach etwa 8 Fahrten an den beiden Schleppliften geht’s auf die schwarze Talabafahrt, die ab Talstation Vuardette recht steil und sehr gut präpariert nach unten zieht.
^^ Talabfahrt; unten in Liddes auf 1280 m schmilzt die Sonne den Neuschnee weg.
^^ Blick von der Talabfahrt zur Sesselbahn und zum La-Chaux-Sektor.
^^ Talabfahrt – Blick zurück.
^^ Sogar Boarder gibt’s hier
^^ An der Kreuzung sind wir im Gegensatz zu vielen anderen auf dem Ziehweg durch das kleine Wäldchen gequert und somit der blauen Talabfahrt gefolgt. Diese führt runter zur Stützmauer am Parkplatzrand und bietet ordentliche Schneeverhältnisse. Die vereinzelten Ansätze brauner Platten unter dem Neuschnee stellen kein Problem dar.
Dann ab ins Auto und zur Station
Super St. Bernard (separater Bericht)
Auf der abendlichen Rückfahrt nach Martigny dann noch 2 Bilder des Skigebiets Les Vichères von Liddes aus:
^^ Weitwinkelansicht: Man erkennt den lockeren Baumbestand im Bereich Sesselbahn und Vuardette (rechts) sowie die Baumfreien Hänge im Chaux-Sektor (links).
^^ Zoom auf Sesselbahn und Vuardette-Tellerlift auf dem Höhenrücken oben
Fazit: Es war schön, dieses Gebiet kennen lernen zu dürfen. Es eröffnet heutzutage eine völlig neue Perspektive wie Skigebiete gestaltet (oder eben nicht-gestaltet) sein können und ist eine willkommene Abwechslung. Zur Ausübung des Sportes Skifahren ist es auf jeden Fall geeignet. Eine uneingeschränkte Empfehlung, dieses Gebiet zu besuchen, kann ich nicht abgeben. Immerhin fehlt so einiges was der Skigast der etablierten Fachmeinung zufolge heute erwarten kann. Immerhin ist das Skifahren gemäss der vorherrschenden Deutung heutzutage nicht mehr in erster Linie Sport sondern ein komplexes Erlebnis-Event, wobei sich das Erlebnis – im Gegensatz zu früher – keinesfalls auf das landschaftliche Erlebnis selbst und das Skifahren beschränkt. Vielmehr wird heute eine Vielzahl von Erlebnis-Komponenten in möglichst schneller Folge als erstrebenswert definiert. Dazu zählen Gastronomie, Unterhaltung, Komfort, Geschwindigkeit, Absicherung gegen Schneemangel, etc. Man erwartet, nicht aus dem Alltagstempo gebremst zu werden. Mit all dem kann dieses Gebiet hier nicht dienen. Ich möchte hier auch nicht eindeutig Position beziehen und die ein- oder andere Form des Skifahrens verdammen. Ich selbst möchte Grossskigebiete nicht missen, aber in erster Linie schätze ich die Vielfältigkeit der Alpen in jeder Hinsicht. Und dieses Skigebiet hat mir gezeigt, dass es die Vielfältigkeit nach wie vor gibt.
Es war ein wirklich schöner Auftakt für die Woche.