Quelle: Die Zeit
Zitat:
Per U-Bahn ins ewige Eis
Reiner Klingholz | © DIE ZEIT, 14.09.1984 Nr. 38
Im österreichischen Pitztal wurde den Wedelfreunden ein Gletscher erschlossen und geopfert / Von Reiner Klingholz
Wenn der Krüger Willi nur die Worte „Deutscher Alpenverein" (DAV) hört, merkt man förmlich, wie sich seine Nakkenhaare aufstellen. Der Magister Krüger tirolert nicht schlecht, wenn er sich Luft macht und ein paar unflätige Worte an die Adresse der organisierten Bergfreunde aus Deutschland losläßt.
Wer da so heftig in seiner ersten Fremdsprache flucht, stammt eigentlich aus Lübeck. Der Krüger Willi hat den größten Teil seines Lebens zwischen Marsch und Geest verbracht. Heute verkauft er Gletscher - und genau das stört den Alpenverein.
Jahrelang kämpften DAV und Naturschützer gegen die Neuerschließung eines Ganzjahres-Skieebietes im österreichischen Pitztal. Doch schließlich setzte sich die Gletscherbahn GmbH durch. Anfang 1984 konnte Geschäftsführer Krüger stolz die ersten Gäste ins ewige Eis befördern - zu einer Zeit freilich, in der das Interesse am Sommerski merklich nachläßt und die Nachbartäler vor dem Bankrott stehen.
1977 hatte sich der'BAViin seinem Grundsatzprogramm entschieden gegen die weitere Verbauung unberührter Bergregionen gewandt. Wer dort Skifahren wolle, der solle sich gefälligst auf seine eigene Muskelkraft rückbesinnen und allenfalls Wedelspuren am Berg hinterlassen.
Auch der Österreichische Alpenverein war nicht sonderlich erbaut von der Gletschererschließung - nach Kaunertal, Ötztal, Stubaital und Zillertal immerhin das fünfte Großprojekt in Tirol.
Klaus Geroser yon der Schutzgemeinschaft Alpen fordert gar ein Ende der Geschäftemacherei mit der Natur: »Wir halten den Sommerskilauf auf den Gletschern für eine perverse Modeerscheinung, die sowieso am Abklingen ist. Die Leute sollen um Gottes willen was anderes machen, als auf jedem Gletscher einen Spielplatz für eine ^Minderheit von Verrückten zu bauen. Mit den gleichen Argumenten könnten wir ein beheiztes Freibad auf der Zugspitze fordern."
Der Widerstand der Bergschützer machte den Bau der Pitztaler Bahn zu einem Marathoa-Hindernislauf. An die 200 Auflagen hatten die Betreiber zu erfüllen. Vor allem mußten sie die Idee einer Seilbahn von Mittelberg auf dem gleichnamigen Mittelbergferner zugunsten eines „unsichtbaren" Projektes fallenlassen: In 613 Tagen »gruben die Bautrupps einen fast vier Kilometer langen Tunnel durch den Granit des Mittagskogel und installierten in der Röhre eine Berg-U-Bahn. Heute klettert der sogenannte Pitzexpreß in wenigen Minuten vom Tal auf 2840 Meter Höhe und spuckt dort seine staunenden Fahrgäste auf Schnee und Eis. . Diese „technische Meisterleistung, in Einklang mit der Natur", wie Gustav Leithner, Mitgesellschafter der GmbH, das umstrittene Bauwerk bezeichnet, hat die Pitztaler selbst praktisch nichts gekostet. Die "Gemeinden mußten lediglich; eme Ausfallbürgschaft von etwa drei Millionen Mark übernehmen. Die über 40 Millionen Mark für das reine Abschreibungsobjekt investierten Talfremde - vor allem ein österreichischer Möbelfabrikant und ein deutscher Likörhersteller. Die Straßenbaukosten - bislang schon mehr als 30 Millionen Mark - trug das Land.
Ein Ende der beträchtlichen Ausgaben ist noch nicht abzusehen, denn die aufwendige Lavinenverbauung bei St. Leonhard erfüllt ihre Funktion bisher nur unzureichend. Zwar versetzten die Verkehrsplaner halbe Berge, um die Lawinen umzulenken, doch die Schneemengen des letzten Winters gingen ausgerechnet neben der neuen Trasse nieder: Wie in jedem Jahr blieb das Inneipitztal tagelang von der Außenwelt abgeschlossen.
was allerdings früher keinen störte, könntn sich die Gletscherbetriebe heute nicht mehr leiten - sie brauchen jeden Gast. 260 000 Besucher müssen im Jahr kommen, um wenigstens die Betriebskosten, unter anderem auch den Lohn für die 30 festen Angestellten, zu decken.
Willi Krüger erwartet den großen Aufmarsch der Skifahrer allerdings nur in den Übergangszeiten, wenn andere Gebiete noch nichts zu bieten haben - nach Ostern und vor der Wintersaison. In der Hauptsaison ist das Gelände eher unattraktiv. Gottfried Huber, Direktor der Österreichischen Fremdenverkehrswerbung in Hamburg: „Ein fiter Skifahrer hält es dort nicht länger als einen ag aus. Die Pisten sind zu flach, und selbst im Winter fehlt eine Abfahrt ins Tal." Zwar führen zwei interessante Routen über den Gletscher nach Mittelberg, doch beide sind mit zahlreichen Spalten durchsetzt und bei einem Gefälle von bis zu 50 Grad sehr lawinengefährdet. „Dort können wir unmöglich eine kontrollierte Piste anbieten", erklärt Willi Krüger. Der Rückweg führt also auf jeden fall durch die dunkle Röhre.
Im Sommer bedingt die Südwestlage der Pisten ab Mittag einen aufgeweichten, stumpfen Sulzschnee. Wenn dann das blanke Eis des schmutziggrauen Gletschers heraustaut und nur noch zwei von drei Liften laufen, werden sich allenfalls ein paar Närrische in den Skizirkus locken lassen. Um die Spalten zu verschließen, muß man Unmengen Stroh hineinstopfen. In anderen Gebieten wird das Eis - sehr zum Verdruß der Umweltschützer - gar mit Tonnen von Salz oder Kunstdünger mürbe gemacht.
Was im Sommer bleibt, sind die Ausflügler und die Kaffeefahrten-Busse. Unter dem Motto „Gletscher für alle" staksen berghungrige Flachländer mit Hut und Handtasche, geblendet von gleißendem Sonnenlicht und mit krebsroten Oberarmen über das Eis. Ein präparierter Sommerweg mit zugeschütteten Gletscherspalten führt die Turnschuh-Ausflügler in einer knappen Stunde bis zur Bräünschweiger Hütte. Dort nächtigten einst,jdje Bergsteiger, um anderentags mit Seil und Steigeisen ins ewige Eis aufzubrechen.
Ideal scheint der Liftbetrieb auf den ersten Blick für die Tourenfahrer zu sein. In zwei Stunden steigen sie vom Schlepplift am Mittelberger Joch bis zur Wildspitze auf! Franz Speer vom Deutschen Alpenverein würde jedoch gern auf diese Erleichterung verzichten: „Die Lifte vereiteln einen echten Aufstieg, verschandeln den Gletscher und haben im Endeffekt die Wildspitze, in Österreich fast ein Heiligtum, entweiht." Folge der mechanischen Aufstiegshilfen: Zu Ostern drängelten sich 250 Bergsteiger um das 3772 Meter hoch gelegene Gipfelkreuz, um im Stau das gigantische Panorama zu genießen: ringsherum die schneebedeckten Berge der Zillertaler Alpen, die Gipfel yon Ortler, Bernina und Silvretta - kurz alles, was in den Ostalpen Rang und Namen hat.
In Sichtweite liegen drei weitere Sommerskigebiete. Im Juni, bei noch exzellenten Schneebedingungen, herrschte freilich überall gähnende Leere: Die Nachbarn der Pitztaler kämpfen ums Überleben.
Noch in den siebziger Jahren hatten deren Höhenflüge die Pitztaler dazu verleitet, selbst in das Gletschergeschäft einzusteigen. Im Ötztal war auf zwei Gletschern ein Sommerskigebiet entstanden. Noch vor der Rezession hatten die Ötztaler eine Mautstraße bis hinauf auf fast 3000 Meter Höhe asphaltiert, zwei Kilometer Gletscher untertunnelt und hoch oben das Landschaftsbild mit riesigen Parkplätzen zerstört. „Talkönig" Hans Falkner, größter Hotelier in Sölden, plante durch einen weiteren Stollen bis zur Braunschweiger Hütte ins Pitztal vorzustoßen, um das dortige Gebiet zu kolonialisieren.
Etwa zur gleichen Zeit stellte auch im Schnalstal Leo Gurschler ein Mammutprojekt auf die Beine. Gletscherbahn, Skilifte und ein Sporthotel mit den Ausmaßen und dem Charme eines Großstadt- Parkhauses mußten her.
In der Boomzeit des Sommerskilaufs kamen die Gäste in hellen Scharen angereist. Als sie entdeckten, daß es sich im Sommer doch besser surft als wedelt, blieben sie weg und Gurschler hockte auf 20 Millionen Mark Schulden.
Im Pitztal soll so etwas nicht passieren. „Wann der Leo net so mit sei'm Porsche und sei'm Hubschrauber geprotzt hätt', war' er jetzt noch der König. Bei uns hot dös a ganz andere, a solide Grundlage."
Ähnlich hatten auch die Nachbarn im Westen, die Kaunertaler, argumentiert. Seit 1980 besitzen sie ein Sommerskigebiet, das zu Glück und Reichtum verhelfen sollte. Bisher brachte die vermeintliche Goldgrube 25 Millionen Mark an Schulden ein. Die Gemeinden müssen beim Land Zuschüsse erbetteln, um wenigstens die laufenden Ko'sten tragen zu können.
Die Erschließung des Weißseeferners im Kaunertal gehört zu den am besten geplanten Pleiten im Alpenraum. Von Dezember bis März, also den Monaten, in denen nach herkömmlicher Meinung Ski gefahren wird, sind die entlegenen Lifte wegen Lawinengefahr gar nicht erreichbar. Aber auch in den restlichen Monaten des Jahres ist den meisten Skifahrern die Anreise über die eigens errichtete „Panoramastraße" zu aufwendig. Anund Abfahrt aus dem süddeutschen Raum nehmen jeweils etwa eine Stunde mehr in Anspruch als der Weg ins Pitztal. An manchen Tagen zählen die Kaunertaler weniger Skifahrer als Personal.
Auf die Frage, was man denn im Pitztal ohne den Tourismus hätte werden können, gibt ein Gastwirt die unmißverständliche Antwort: „Ein armer Mensch. Wir hatten es satt, mit unserer Postkartenidylle hinter dem Rest-Österreich hinterherzuhinken und von dem Kuchen des Tourismus immer nur die Krümel abzukriegen."
Reich waren die Pitztaler tatsächlich nie. Für eine intensive Landwirtschaft ist ihr Tal zu eng, und um mehr als ein paar Kartoffeln oder Wintergerste anzubauen, liegt es Zu hoch. So bleiben nur Wiesen und Sommerweiden auf der Alm. „Das ist auf Dauer nur etwas für die fremden Städter zum Anschauen." Wer es früher im Pitztal zu etwas bringen wollte, mußte notgedrungen schmuggeln und wildern gehen oder abhauen - als Gastarbeiter im eigenen Land.
Nach der „schlechten alten Zeit" kamen die Leute dann doch durch einen verhaltenen Tourismus zu einem bescheidenen Wohlstand - „wenn auch nicht so ganz zu dem, den man sich so erträumt". Jetzt gelten die neuen Träume dem erhoffien^ufschwiing dujrch die Gletscherbahn.
Wüli Techtl, einer der wenigen lokalen Kritiker, warnt vor Euphorie: „Die Leute hier sind völlig blind für die Veränderungen im Tal. Ich hab' das selbst gesehen, wie sie die alten Höfe abgerissen haben. Oben aus dem Fenster ham sie die handgeschnitzten Schränke und Truhen rausgeworren und unten ham schon zwei andere mit der Axt gestanden. Mit dem Bulldozer ham sie dann die alten Kachelöfen z'ammeng'fahren. Und heut', die neuen einförmigen Gasthöfe und Pensionen - das ist doch eine einzige Geschmacklosigkeit."
Willi Krüger träumt derweil vom Expandieren: „Wir sind im Zugzwang. Um wirklich was aus dem Gebiet zu machen, müssen wir mindestens noch zwei weitere Lifte bauen." Die gibt es womöglich günstig auf dem Gebrauchtmarkt: Inoffiziell haben die Kaunertaler ihre Anlagen schon zum Verkauf angeboten.
Eine geradezu höchst interessanter Artikel, der angesichts der Quelle auch ziemlich solide recherchiert sein dürfte! Die Diskussion ist eröffnet!