Secondo tempo
Das Gleiten über die weiten Flächen von den umgefallenen Masten am Geisterlift hinab zum Trincerone Komplex wird von mir im Moment zum Filetstück für Wellness und Flow deklariert. Das gehört irgendwie zu jeder Tour dazu, muss "mit bei sein". Wir benennen das gerne mit dem Begriff "Kino". Weil man sich ob des gebügelten Geländes nicht auf die eigene Bewegungen konzentrieren muss, sondern die Gesamtheit der Ferne und der Nähe wahrnimmt. Weil man genug Sensoren und unterbewusste Verarbeitungskapazität frei hat in sich, um in entspannter Ruhe das Wahrzunehmen, was im Moment ist. Dies fühlt sich ganz anders gegenüber dem an, was mir während der Stunden des Aufstiegs durch Sehnen, Knochen nebst Muskeln und Haut geht. Beim Aufstieg ist es ebenso ein Flow-Gefühl welches sich einstellt, aber eben ein ganz anderes, ein von innen nach außen wirkendes, und ein in intensiven automatisch guten Gedanken schwelgendes.
Bei der flowigen Abfahrt über die ultraweiten weißen und hindernislosen Flächen hingegen wirkt das Äußere auf das Innere besonders intensiv ein. Geistige Tätigkeiten ganz abgestellt. Der Moment der eigentlich sehr kurz ist (3 Minuten vom Geister zum Trincerone?), dehnt sich offenbar auf eine Ewigkeit aus und mag sich gleich noch in eine Zukunft hineinprojizieren. Wie ein Aspirin wirkt nach der Einnahme, so wirkt auch die "Kino" Abfahrt.
Die Kombo aus beiden, Aufstieg und Abfahrt macht es aus und somit perfekt. Beides zusammen ergibt mehr als jedes Einzelne für sich. So Schluss damit, es geht ja um Lifte und Holismus ist Esoterik Hm.
Am "Fungo", dem formenprägenden Pilzhotel am Trincerone auf etwa 3050m Seehöhe sitzen Klaus und Andreas bereits eine ganze Weile auf einer hölzernen Parkbank, die wohl irgendjemand aus dem Lagerstapel baugleicher vielfarbiger Sitzgelegenheiten gezogen hat. Das dutzend Bänke von Gelb bis Rot war ehemals am Betondeck in Reih und Glied aufgestellt und wurde so die bezeugenden alten Postkarten gerne zu dem verwendet, was ItalienerIn im Skigebiet offenbar ob geeigneter Hautkomposition sehr gerne zu tun pflegt: Sich mit Massen Gleichgeneigter stundenlang im Skigebiet unter stärkster Höhensonne zu grillen. Als optionales Accessoire gab es damals Kartonspiegel, mit denen man um den Hals gelegt noch mehr Sonnenpower ins Gesicht lenken konnte.
An und für sich sollte ich wohl auch mal ausruhen und etwas essen. So drücke ich Klaus die Kamera in die Hand (Zeit effizient nutzen!
) mit dem Auftrag "mach mal". Während ich das zweite teure Shelltankstellensandwich verzehre im Monstermodus. An jener komemorativen Erinnerungstafel, die dem Tode eines Besatzungsmitgliedes eines Militärflugzeugs gewidmet ist, welches hier in den 1960er Jahren in die Seile der Materialseilbahn zum Livrio flog und dann zerschellte.
Das Fungo oder offizieller "Nuovo Pirovano" sieht auch heute noch erstaunlich modern und auch gut erhalten aus. Man könnte die Architektur auf die 1980er verorten, ist es aber nicht: Der Pilzbau stammt angeblich bereits aus dem Jahr 1962(?!). Ausgeführt als Stahgerippenbau mit angehängten Fassadenkassetten und Glassfaserisolierung enthaltend galt der Bau wohl als markantes Symbol des Fortschritts und ist seit etlichen Jahren geschlossen. Mittlerweile (nachdem Vandalen innen von der großen Kaffeemaschine bis zum Flipperautomaten alles zerstört haben) ist das Gebäude robust gesichert.
Die beiden Südtiroler klettern auf das kochend heiße weil dunkle Blechdach des Verbindungsganges, der den "Fungo" mit dem unweit entfernten "Grande Pirovano" von 1960 verbindet. Das Verbindungselement bildet auch den Empfangsbereich mitsamt Reception. Das Gebäude wurde außen wie innen Winterfest gemacht, alles ist schön abgedeckt und eingepackt. Als ob es nächste Saison gleich weitergehen würde...
Ich mache noch eine Teilrunde um die Gebäude. Bei den zwei stylishen Pistenwalzen vorbei, die genau so bereits im letzten Sommer neben dem Gebäude geparkt da standen. Es ist dieses die ausgeprägt modernistische Form der 1970er Jahre die mich hier fasziniert. Eine Ästhetik, in der Italien damals zur Avantgarde zählte, zusammen mit designorientierten Firmen wie Olivetti und ja auch Fiat zB. (Fiat 127 als Beispiel).
Der Schnee ist zwar gut tragend, aber nach den bisher etwa fünf oder sechs Stunden im Schnee bin ich etwas müde. Sehr müde auf einmal. Dass die Kamera gute Bilder aufnehmen möge, ich schaue nicht mehr wirklich drauf.
Erst beim Weiterfahren fällt uns auf, dass ein guter Teil des Daches vom "Grande Pirovano" an der Nordseite weggeklappt ist wohl als Folge eines Sturmereignis. Möglicherweise sind hierbei zeitnah auch die zwei Masten des Geisterlifts gekippt. Das Hotel Thöni, übrigens das letzte im Gebiet erbaute Hotel von Ende 1970er, hat auch einen großen Teil seiner roten Blechfassade eingebüßt, das Tennisplatzgrosse Teil liegt wohl jetzt irgendwo am Gletscher rum, wird im Sommer austauen und wohl noch ewig dort herumliegen oder im Gelände weiterfliegen.
Selten finden sich Werke des Wintertourismus so stark den Naturkräften ausgesetzt. Für mein Empfinden ist hier alles zu schnell und zu groß, zu pflegeaufwändig, zu komplex geworden. Es ist nicht zu erhalten. Menschen haben heute andere Bedürfnisse und Wünsche offenbar. Die Ökonomie trabt anderswo. Ob es Ischgl und Zillertal auch irgendwann derart ergehen könnte? In der Geschichte der menschlichen Kulturen an und für sich unausweichlich, auf ein Hoch (Kulturhoch möchte ich es nicht nennen) folgt ein tiefes Tief. Man fahre nach Rom zB. Oder bin ich jetzt Pessimist?
Hinter dem Ortlerhaus drehe ich mich um, Zoome an die Hölzl Seilbahnstation von 1975, die in dritter Generation die Seilbahnverbindung von der Passhöhe hier herauf bedient. Ein Kabinendach und der Perron sind durch gut windgeformten Schneepackungen beglückt. Die Kabine trägt übrigens noch das Corporate Identity einer Seilbahn von Dolomiti Superski. Denn das Vehikel diente letzten Sommer anderswo als Ersatz für eine in das Stationsgebälk gecrashte Kabine (Ciampac im Fassatal (danke ‘cv‘). Dass die Schneeformationen auch im Bild interessant sein könnten, merke ich erst zuhause. Dort in der eingeschneiten Station sollte man herumstapfen und Nahaufnahmen von blau lackierten Eisenkonstrukten in organischem Schnee versuchen. Das nächste mal.
"Baita Ortler" ist der Name des großen Klotzes neben der Seilbahnstation. Wieviel hundert Betten die Baita wohl beherbergt in ihren vielen Zimmern entlang der übergroßen Fassade? "Baita" heißt "Hütte", der Name trägt etwas filigranes, kleines in sich. Eine Baita ist auch eine Strohhütte. Es ist weniger als ein Rifugio. Viel naturnaher, simpler. Aus welcher initialen und ob des Namens vielleicht kleinen Idee "a misura d'uomo" die "Baita Ortler" wohl entstanden sein mag?
Hinter der Baita baut die interessante Fassade neben der Seilbahn breit und hoch auf. Dort wo die Postkarten nicht hinblicken. Es könnte sich auch um eine Rückfassade einer 1960er Jahre Fabrik in der Industriezone von Genua handeln. Angeklipste Luftschächte, ein horizontal an der Wand angebrachter Steg, Treppensysteme aus Stahl, über die Zeit hinzugebaute Versorgungs- und Funktionsbauten. Derweil ist es neben dem Thöni eines der wenigen Gebäude, denen der Putz oder die Farbe nicht abblättert. Die Eigentümer der beiden Häuser sind als einzige Südtiroler...
Ich finde das Ganze einfach toll. Manch andere sucht die Schönheit in Postkartenmotiven, ich finde es toller, was sich auf der anderen Seite befindet. Die Vorderseiten sind ja alle bestens in allerlei Prospekten u.dgl. geschönt und mit Werbung umtextet zu finden. Das muss ich hier doch mal festhalten: Es gibt hier für mich kein "gut" oder "schlecht", kein "schön" oder "scheußlich". Was da ist ist einfach da. Ob das alles letztendlich Sinnvoll oder nicht ist, ist eine andere Sache. Im Moment ist es genial.
Die zwei starken Wegbegleiter sind wohl schon unten am Pass. Weiterfahren. Die Abfahrt hinunter führt über interessant leicht gehügeltes Gelände, auf dem noch bis in die Anfänge des letzten Jahrhunderts der Gletscher bis fast zum damals Franzenshöhe genannten Pass hinab reichte (bis etwa 100-200m vor der jetzigen Talstation der PB). Blindes Fahren ist hier ob der doch zahlreichen Masten von Seilbahnen und Versorgungsleitungen nicht sinnvoll, daher wähle ich die gut distanzierten Holzmasten einer Telefonleitung um in großen Bögen um die Masten am weich/harten Firnschnee hinabzu...carven. Carven ist hier etwas feines, es spart gegenüber dem Kurzschwung Kraft, es ist der weiten Landschaft angemessen schnell. Jeder Mast eine Torstange.
Wo mache ich sowas schon mal? Hier genieße ich es. Sonst vermeide ich schnell fahren weil damit das Vergnügen zu schnell vorbei ist.
An einem der Betonmasten der Pendelbahn halte ich inne. Der breite Querschnitt der Betonbasis ist freigeweht, drumherum ein etliche Meter hoher windgeformter Schal aus Schnee. Und blicke nach oben auf die Seilrollen hinauf. Schaudernd erinnere ich mich wie ich die Hand einzog, als ich vor einigen Jahren im Inspektionskorb am Drehpunkt der Gondelaufhängung mitfahrend die Seilbahnfahrt aus der Sicht des Laufwerks filmte. Damals war auch keine Zeit zu garnichts, es wurde mir angeboten und ein paar Minuten später ging es bereits los. Die Stützenüberfahrt bei 8m/s so nah dran an der vorbeirauschenden Stützenmechanik...das hatte schon seine Dynamik. Riemen oder sonstige Kleiderteile hatten da nicht im Fahrtwind rumbaumeln sollen. Taten sie auch nicht. Aber war ich mir dessen bewusst?
Weiter unten gelange ich zur in einer Aufstiegssituation doch 10 Gehminuten oberhalb der Passhöhe gelegenen Talstation des ehemaligen Marchisio Einer-Sesselliftes. Weswegen wurde die Station bloß hier hingestellt, und nicht weiter unten am Pass? Ähnliches gilt für die Bergstation, die ebenso weit vom Ziel Trincerone entfernt hingesetzt wurde. Es gibt Theorien.
Die Station wurde mit einem großen neuen Holztor versehen. Wieso steht ein Flügel offen? Darin geparkt ein großer weißer Löffelbagger zum Spaltenschaufen. Vor dem Gebäude fast unter der Dachschräge und damit gut erreichbar für Dachlawinen überwintert eine weitere Pistenraupe mit wohl durch Dachlawine verbogenem Aufbau (Ein Inspektionskorb an einem Kran Arm zur Montage der Liftgehänge u.dgl.).
(fine secondo tempo)