Tja, so langsam näherte sich die Woche dem Ende. Ich war schigefahren, wie nie zuvor, Kilometer um Kilometer, jeden Winkel der 3 Vallées hatten wir erkundet. 18 Jahre, die ganz große Freiheit...
Wir waren die Routen von der La Masse hinab zum Lac du Lou gefahren (meine erste Erfahrungen abseits der Piste!), Steilhänge am Caron und am Fond II, bei denen man den Hang im Stehen fast berühren konnte (ich weiß nicht, ob ich danach nochmal eine solch steile Passage gefahren bin) und hatten die vielen verloren Ecken dieses riesigen Schigebiets für uns entdeckt – jede einzelne. So viele faszinierende Ort, Relikte und Moderne, Hand in Hand.
Regelmäßig haben wir den letzten Lift verpasst und oft ging es nur noch darum, überhaupt rechtzeitig bis ins Bellevilletal zu kommen, um wenigstens von dort irgendwie zu Fuß oder mit dem Bus weiter zu kommen. Nicht selten sind wir geheizt wie die Irren, um das noch hinzubekommen und bald kannten wir die genauen Schließungszeiten aller Anlagen zwischen Meribel bzw. Mottaret und Les Menuires und vor allem rund um Les Menuires auswendig. Wir optimierten jeden Tag die Kombinationen der Lifte, berücksichtigten eventuelle Schlangen und die Wahrscheinlichkeit auch fünf Minuten nach Liftschluss vielleicht noch mitgenommen zu werden (da boten sich immer die alten SL an!).
Der gesamte Plattieressektor war immer tabu, weil die Wartezeiten um 40 Minuten in Mottaret regelmäßig verhindert hätten, dass wir noch Côte Brune bekommen hätten - die Voraussetzung um über den Grat zur Piste Pluviomètre zu laufen, dem Rückweg nach Val Thorens. Wenn wir denn überhaupt bis Mottaret kamen. Oft ging es darum, von Courchevel aus noch die Bahn auf die Tougnète zu erreichen, dem nördlichsten Punkt, von dem man noch bis in die Croisette nach Les Menuires abfahren kann. Oder aber ab Mottaret die beiden Lifte Combes und Roc de Tougne zum Mt. de la Challe. Auch von hier konnte man bis zur Croisette abfahren und dabei die genialst trassierte Teppes-Piste bis zum Sprung durch die Lichtmauer (
) runterheizen.
Rund um Les Menuires bestand regelmäßig das Problem, sich in dem Chaos von Pisten und Liften nicht zu verfahren, selbst wenn man vom Roc de Trois Marches kam. Denn: sobald man in der Croisette landete, war man dort meist gefangen. Die EUB zum Mt. de la Chambre war dann im allgemeinen schon zu, mit Glück konnte man den Sessellift Les Menuires erwischen, aber auch da musste man aufpassen, weil das zwei Lifte mit gemeinsamen Stützen waren, aber der eine (Montagnettes) endete zu tief!!! Das Ziel wäre stets die EUB Bruyères gewesen, der Schlüssel zum Rückweg nach Val Thorens. Die machte aber viel zu früh zu. Nach einiger Zeit kamen wir drauf, dass es ja reichte den Sessellift Col de la Chambre zu erreichen, ab der Mittelstation der EUB. Der lief wesentlich länger, war aber schwerer zu erreichen, weil man dort nur mit der EUB selbst oder dem Sesselllift Étélé hinkam. Étélé war dann auch bald ein geflügeltes Wort und hat uns ein paar mal den Arsch gerettet, der Gute.
Doch irgendwann haben wir auch den mal nicht mehr bekommen. Während mein Kumpel Philip gelaufen ist nach Val Thorens (!), ist mir die vermutlich ohnehin beste Lösung eingefallen (wir hatten uns wie immer bei den panischen Rückkehrversuchen verloren, weil wir beide ohne Rücksicht auf Verluste durch das Chaos um Les Menuires durchnavigieren mussten... ). TK Reberty!! Dieser kleine Schlepplift war die Lösung. Als ortsnaher Übungslift lief er ewig und - das beste - man kam von dort zum TK Montaulever, jenem heute kaum noch beachteten Schlepper, der in den ersten Tagen mal die Verbindung zwischen Les Menuires und Val Thorens herstellte. Und auch der lief extrem lange, wir hatten ihn bisher meist nur nicht erreicht, weil wir keinen Lift davor mehr gefunden hatten, der uns nahe genug heran gebracht hätte. Die Kombination Reberty und Montaulever hat uns ab diesem Zeitpunkt immer gerettet... vermutlich haben wir Rekorde bei der Durchquerung der 3 Vallées aufgestellt, sowohl was die Zeit als auch was die Effizienz anging.... *träum von den alten Zeiten...
*
Ja ja, Effizienz. Bald kamen wir drauf, dass es ziemlich sinnlos war, einfach immer kreuz und quer durch die 3 Vallées zu kurven und da kam uns folgende Idee. In irgendeinem Schiatlas hatte ich mal gelesen, dass es nicht möglich sei, die kompletten 3 Vallées in einem Schiurlaub abzufahren. Da witterten wir eine Herausforderung!!! Hinsichtlich der Pisten war das natürlich nicht zu machen, weil zu viele Pistenstücke, die als Variationen existieren, erfordert hätten, dass man zig Pisten wiederholt, um ein kurzes Stück von ein paar hundert Meter auch noch zu fahren. Aber die Lifte: das würde gehen!! Wir hatten noch vier Tage Zeit, also planten wir auf extremste durch, welche Route die optimale wäre, um in diesen vier Tagen wirklich alle Lift zu fahren. Dafür mussten wir schauen, wann welcher Lift morgens öffnete und wie lange die Lifte fahren würden und wie man sie optimal kombinieren könnte. Zudem kam es maßgeblich darauf an, keine versehentlichen Wiederholungen einzubauen. Teils mussten wir auch umplanen, wenn ein Lift mal einen Tag lang nicht fuhr. Am jedes mal war es ein Genuss, einen weiteren Lift aus der Liste im Pistenplan zu streichen!!!
Und wir haben verdammt viel von den 3 Vallées gesehen. Ich dachte, dieses Schigebiet nach ein paar Urlauben wirklich zu kennen. Aber diese Aktion hat uns in Ecken geführt, die zuvor niemals besucht hatte – und nicht selten waren dies wundervolle Momente.
Tatsächlich erreichten wir unser Ziel so gut, dass es nicht mal etwas ausmachte, dass am vorletzten Tag alle Lift inklusive Funitel (!!!) wegen Windes geschlossen waren. Das war ein geniales Bild: da die Lifte nicht fuhren, waren bald alle Menschen auf den Straßen von Val Thorens: schätzungsweise eben 15.000 Leute, der Ort war ausgebucht. Ein Gedränge, wie auf einer Massenveranstaltung. Durch den Sturm war der Schnee weggeflogen auf den Straßen und das blanke Eis kam hervor. Die Menschenmassen rutschen hilflos auf den steilen Straßen umher, der Wind war aber so stark, dass man bergaufrutschte!!! Das habe ich davor und danach nie wieder erlebt, es war wie segeln oder surfen auf einem Eishang! Du konntest nichts machen, bis du irgendwann am Straßenrand in einen Schneehaufen geflogen bist - ein mords Spaß. Die Windgeschwindigkeit betrug über 120 km/h, so météo france.
Und dann kam der letzte Tag, noch einmal konnte wir schifahren, bevor Samstag abend der Bus nach Moutiers abfahren würde und dann der Zug in die Heimat. Und ein letztes Feld war noch blank und leer auf unserer Liste, keine Strich hatte diesen Namen ausgestrichen in der ewig langen Liste der Anlagen der Trois Vallées. Ein letztes Feld war frei geblieben. Und dabei war es nicht mal ein Name, es war nur eine kurze Zahl: 3300!
Das konnten wir nicht auf uns sitzen lassen, das war einfach unerträglich. Also fasten wir folgenden Beschluss: wenn Lifte nun mal aus Prinzip nicht betrieben wurden in der Wintersaison, dann sollte es auch ausreichen dürfen, wenn man zur Bergstation selbst aufgestiegen wäre, um den Lift streichen zu können. Und genau das war unser Plan.
Bald standen wir an der Funitelbergstation auf 2880m Höhe. Die Bergstation des 3300 sah wir immer sehr nah und doch entrückt aus auf ihrem Grat, der uns überragte. Zu allem Unglück lief der Glacierlift nicht, so dass wir bereits ab hier aufsteigen mussten. Langsam, Stück für Stück, die Höhe durchaus spürend, trugen wir die Schi hinauf, die Piste entlang zur Felsinsel, der Bergstation des Glacierliftes. Von hier aus war noch ein kurzer Weg gewalzt, einige Höhenmeter weiter, dann war Schluss!! Nach wenigen Metern im bauchtiefen Tiefschnee in diesem Steilhang merkten wir, dass wir unsere Schier dort nicht würden rauftragen können. Also ließen wir sie zurück, Tiefschneefahren konnten wir ohnehin beide nicht wirklich. Aber meine große Spiegelreflexkamera mit dem schwere Teleobjektiv, die nahm ich im Rucksack mit.
Und dann kam die unglaublich Strapaze! 200 Höhenmeter, die uns wie eine Ewigkeit vorkamen! Stück für Stück, ja beinahe Zentimeter für Zentimeter gruben wir uns durch den Tiefschnee und rutschen jedesmal zurück, so dass jeder Schritt drei Anläufe brauchte, bis er vollbracht war. Soweit es ging suchten wir uns vom gestrigen Sturm gepresste Triebschneeplatten, auf denen es sich einfacher laufen ließ (hätte ich damals doch nur auch nur ein ganz klein bisschen Plan von Schneebrettern und ihrer Funktionsweise gehabt...
).
Es war die Hölle, wir haben ewig gebraucht, ich glaube eineinhalb Stunden oder zwei, für diese etwa 180 Höhenmeter. Schließlich standen wir ca. 5m unterhalb des Grates. Ich schaute Phil an: „Lass uns die letzten zehn Schritten nebeneinander gehen, ich will, dass wir genau gleichzeitig oben ankommen.“ - „Ok“. Er lachte. Und so gingen wir das letzte Stück nebeneinander durch den extrem steilen Tiefschnee, gruben uns durch die Schneemassen, zählten die Schritte rückwärts. Also wir so etwa das vierte mal bei Null waren, erwartete uns der gigantischste Anblick, den ich bis dato bewusst gesehen hatte: vor uns lag 500m unterhalb der Polsetgletscher und dahinter soweit das Auge reichte die unberührte Landschaft des Nationalparks de la Vanoise.....
Blick über den Grat in den Nationalpark....
Der Grat war ultra-schmal und ausgesetzt. Ein kurzes Stück Fels und dann der sofortige Übergang in das steile Eis des Gletschers. Um einen besseren Überblick zu haben und natürlich, weil das unser eigentliches Ziel war, stiegen wir die Holzrampe hinauf zur Plattform der Bergstation. Was für eine genialie Konstruktion! Die gesamte Station bestand nur aus dieser Holzplattform, der hintere Teil mit der Umlenkscheibe hing frei in der Luft über den Grat hinaus. Ein durchsichtiger Gitterrost erlaubte es, diesen Teil zu betreten. Ein mulmiges Gefühl...
Meine Wenigkeit, im hinteren Teil der "Bergstation", die frei über dem Abgrund schwebt.
Von der Plattform bietet sich ein grandioser Blick auf die Gipfel des Péclet-Polset-Massivs und seine Gletscher.
Die Plattform im vorderen Teil, Probesitzen durch Phil. Die Rampe hinab auf den Gletscher habe ich nicht photographiert, sie war allerdings auch weitestgehen schneebedeckt und daher von oben nicht großartig zu erkennen.
Ein Bild von historischem Wert: hoch oberhalb der höchsten Skistation Europas thront einem Adlerhorst gleich die Bergstation des 3300. Selbst die früher als hochgelegen empfundene Bergstation des Funitels oder die des Glacierliftes sind nur noch kleine Orte unterhalb. Und anders als dort ist von hier oben der Blick frei bis ins Flachland!!!
Wenn man all diese Berge dort unten als Schiberge kennt und sie vom Tal aus als hoch und steil und ausgesetzt empfindet, und wenn man weiß, wie es sich anfühlt, auf dem Carongipfel zu stehen und was für ein Gipfelgefühl man dort hat... : dann kann man vielleicht jetzt verstehen, warum der 3300 etwas Majestetisches hatte.. der Ort, wo die La Masse oder der Caron ein kleiner weißer Punkt von vielen sind in den zahllosen Ketten von Gipfeln.... der Gpfel der Gipfel des größten Schigebietes der Welt!
Abschließend der Blick nach Norden mit den "kleinen" Bergen Saulire und Mt. Vallon. Im Hintergrund thront der Mt. Blanch, am rechten Bildrand erkennt man wohl den Gipfel des Bellecôte.