Es begab sich am dritten Juli des Jahres Zweitausendzehn, als wir durch das Valle Anzasca - talaufwärts Richtung Westen fuhren.
Seitlch bauten sich steile Bergflanken auf, die von undurchdringlich erscheinendem Bewuchs überwuchert waren.
Hin und wider tauchte aus diesem Dickicht ein Dorf auf. Wir jedoch durchfuhren diese Dörfer nur, denn unser Ziel lag am Talschluss.
Irgendwann, nach einer Unzahl von Kurven, die die schmale Straße beschrieben hatte, zeigte sich vor uns, noch in der Ferne, eine mächtige Wand auf, die vom Charakter her ungleich karger war, als die Hänge, die uns bis hier begleitet hatten.
Schroffe Felsen, zwischen denen Eismassen zu Tal zu strömten, strebten gen Himmel.
Diese Wand wurde gekrönt von glitzerndem Schnee und ich erkannte in ihr die Monte Rosa Ostwand.
Während ich noch die Szenerie bestaunte, erreichten wir unser Ziel - Macugnaga.
Eine leichte Unsicherheit beschlich uns, als wir auf den Parkplatz der Seilbahn einbogen. Schließlich war meine Anfrage nicht beantwortet worden und auch sonst war es uns nicht gelungen zu ermitteln, ob der Skilift auch an diesem Wochenende in Betrieb gehen würde.
Aus irgend einem Grund überkam mich jedoch ein positives Gefühl, als wir die kleine Brücke zur Seilbahnstation überschritten und der Aushang an der Kasse verriet uns, dass der Skilift San Pietro am morgigen Tag den Sommerskilauf am Passo Moro ermöglichen sollte.
Sommerski Monterosa - Macugnaga 3000. Dieses Schild hatte starli bereits vor längerer Zeit, halb vergessen hinter diversem Gerümpel entdeckt. Doch es stammte aus der Vergangeneit und ich wagte kaum zu hoffen, dass sich mir eine solche Gelgenheit einmal bieten mochte.
Jetzt hingegen wussten, wir, dass der Tag kurz bevor stand, an dem diese Chance gekommen sein sollte.
Zufrieden suchten wir uns ein Quartier und am nächsten Morgen um Acht Uhr standen wir bei bestem Sommerwetter an der Seilbahn.
Die Sonne war bereits aufgegangen und streifte die Hänge unterhalb der Alpe Bill.
Einen Film hatte ich noch und somit sechsunddreißig mal die Chance, einen photographischen Eindruck dieses Tages einzufangen.
In der Station herrschte eine Ruhe, die die Ruhe des mogendlichen Macugnaga wiederspiegelte. Ein weiterer Skifahrer hatte sich noch eingefunden und kein Maschinenlärm, wie man es aus vielen anderen Gebieten kennen mag, störte die morgendliche Stimmung.
So genossen wir wenige Minuten die Stille, als auch schon die kurze, steile Auffahrt zu Alpe Bill begann.
Bereits jetzt bot sich uns ein beeindruckender Blick auf den mächtigen Monte Rosa, dessen Ostwand zu dieser Frühen Stunde bereits gänzlich von der Sonne beschienen war.
An der Alpe Bill gingen wir sogleich zur oberen Sektion, deren Gondelführer uns augenblicklich auf den Weg in die zweite Etage, hinauf zum Passo Moro brachte.
Rasch gewannen wir an Höhe. Noch zurückblickend wandelte sich die Landschaft von üppiger Begrünung hin zu karger und auch abgelegener werdender Hochgebirgsszenerie.
Ein föhniger Sturmwind erfasste die spärlich gefüllte Kabine, die ihren Weg unbeirrt forstsetzte.
Als ich dann kurz vor der Bergstation in freudiger Erwartung Richtung Pass blickte, zeigte sich die Szenerie in glänzendem Firn, in dem bereits die ersten Skifahrer ihre Spuren gezogen hatten.
Welch ein Licht, dachte ich, während ich die von Felsgruppen durchsetzte Landschaft betrachtete.
Im Vorraum der Seilbahn legten wir unsere Ausrüstung an und traten aus der Station in die Morgenluft. Es herrschte tatsächlich eine föhnige Stimmung hier am Alpenhauptkamm und über dem Joderhorn bildeten sich bereits die typischen Strukturen, als wir kurz darauf die Traverse zum Skihang hinunterglitten.
Der Tellerlift san Pietro mochte ungefähr 300m lang gewesen sein und um die 75 Höhenmeter überwunden haben.
Es gab eine einzige Piste mit einer Variante im oberen Bereich, die jedoch bereits nicht mehr ganz durchgehend befahrbar war. Einzelne, kurze Stellen luden zu einem Ausflug ins Gelände ein, der jedoch nur wenige Schwünge anzuhalten vermochte. Aber bereits diese wenigen Schwünge sollten reichen, in die absolute Abgelegenheit der Bergwelt einzutauchen. Diese Welt wurde durch die dezent platzierte, 300m lange Anlage in ungewöhnlichem Maße respektiert, so dass immer die Landschaft ansich unsere Eindrücke prägte.
Oh nein, wer hier die sportliche Herausforderung suchte, wäre wahrlich so fehl am Platz gewesen wie ein ein Großformatphotograph beim Hundertmetersprint der Olympiade.
Doch wer die Besonderheit des Momentes, die Stimmung der Exclusivität des Augenblickes und die gelassene Betriebsamkeit im kleinen Kreise am Ende der Welt anstrebte, der mochte hier finden, was er suchte.
So waren die Abfahrten ansich lediglich das Mittel zum Zweck, um eben dieses Ambiente vollkommen zu machen.
Und das sprichwörtliche Tüpfelchen auf dem i war, dass das Schild der Vergangenheit seinen Weg zurück auf die Sommerskihänge des Passo Moro gefunden hatte.
Doch auch zu einem perfekten Vormittag gehört vielleicht eine kleine Inperfektion.
Ich, der ja ein Freund der typischen kleinen Italienischen Bars in alten, italienischen Seilbahnstationen bin, hatte gehofft, auch in der bar der Seilbahnstation am Passo Moro einen Café und eine Cioccolata calda zu genießen. Doch als Tribut an den äußerst niedrig frequentierten Betrieb, war diese Bar - auch wenn der Eingang so wunderbar einladend aussah - leider geschlossen.
Das nahe gelegene C.A.I. Rifugio bot uns jedoch adäquaten Ersatz, so dass wir den Halbtag nach einer Besichtigung der Seilbahnstation und ihrer Umgebung dort ausklingen ließen.
Schließlich machten wir uns auf den Weg und fuhren mit der Seilbahn wieder hinab zur Alpe Bill, wo ich noch fast ungläubig die Perfektion der Station bestaunte.
Wie war das möglich, dass dieser Ort über Jahrzehnte überlebt haben konnte? Offenbar war über fast fünfzig Jahre niemand auf de Idee gekommen, den Beton farbig zu streichen, Stahlkonstruktionen auszuwechseln oder anzumalen, Werbeplakate aufzuhängen oder das Gebäude sonstigen optischen Belastungen zuzuführen.
Noch beeindruckt von dieser wohltuenden Reinheit schwebten wir schließlich in das nun so sommerlich betriebsame Macugnaga zurück und verließen den Ort - um einige, ganz besondere Eindrücke reicher.