Skifahren zwischen den Fronten – Stilfserjoch (26.08.2015)Ob mit dem Titel „Zwischen den Fronten“ angedeutet werden soll, dass der Schreibende in einen Kampf zwischen Skifahrer und Snowboarder geriet? Oder gar in einen Streit zwischen den „braven“ Pistenbenutzern und Freeridern? Nein, nichts davon! Der Titel gibt vielmehr einen Hinweis auf den Skiort und dessen historische Hintergründe – das Stilfserjoch im Alpenkrieg 1915-1918. Ein Thema, dem in dieser Region dieses Jahr speziell gedacht wird.
Anreise per Bahn und BusDoch der Reihe nach: Um das schöne Sommerwetter zu nutzen, entschloss ich mich, einige Tage im Münstertal (Val Müstair) zu verbringen. Wohlweislich hatte ich dabei meine Skischuhe eingepackt, um auch dem Stilfserjoch einen Besuch abzustatten. Bereits die Anreise gestaltete sich spannend, wenn auch langwierig. Als (fast) konsequenter ÖV-Benutzer reise ich im Normalfall nur per Eisenbahn und Bus in die jeweiligen Skiregionen. Dies hat den Vorteil, dass ich gleichzeitig auch ein anderes Hobby – die Eisenbahn – bereits auf der jeweiligen Hinreise pflegen kann. Tatsächlich wurde ich nicht enttäuscht. Bereits im Hauptbahnhof Zürich fand sich eine schöne SBB Re 4/4 II aus der zweiten Serie (1967/68).
Weiter ging es nach Landquart, wo wir kurz auf unseren Zug warten mussten, weil sich auf dem Gleis noch der vorherige Zug befand, der etwas später abfuhr. Dies ermöglichte es, auch diesen „Alpenquerer“ zu fotografieren.
Später sollte ich realisieren, dass die Rhätische Bahn indirekt ebenfalls einen Bezug zum Titelthema besitzt, worauf ich aber noch kommen werde. Zunächst ging die Reise nach Zernez, wo auf das Postauto über den Ofenpass umgestiegen wird. In der Deutschschweiz hat der Ofenpass im Volksmund eine besondere „Bedeutung“. Wenn sich jemand schusselig anstellt oder zu wenig über die Folgen einer Handlung nachdenkt, sagt man ihm (oder über ihn):
Bisch nid ganz bache? (
Bist Du nicht ganz gebacken? im Sinne von:
Bist Du nicht ganz normal?). Daraus folgt in Bezug auf den Ofenpass die „Weisheit“:
Bisch nid ganz bache, so fahr uber-e Ofepass. Denn dann sei man ja gebacken (also wieder normal). Ob dies bei mir der Fall war, vermag ich nicht zu beurteilen. Jedenfalls zeigte sich an diesem sonnigen Tag die Strecke von ihrer schönsten Seite. Im Münstertal angekommen holte ich bei der Post kurzerhand mein (per Bahn und Bus vorversendetes) Gepäck ab und wir quartierten uns ins Hotel ein. Anschliessend besuchten wir in Santa Maria das kleine Museum, welches dem Titelthema gewidmet war: das „MUSEUM 14/18“. Es beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Alpenkrieg 1915-1918 in der Region des Umbrailpasses und Stilfserjochs.
http://www.stelvio-umbrail.ch/01_de/museum.htmlDer Erste WeltkriegDie Vorgeschichte des Krieges ist „relativ“ rasch erzählt. Um 1910 waren die europäischen Mächte in einer schwierigen Stimmung. In den Jahrzehnten davon war massiv in die Rüstung investiert worden. Zugleich gerieten die verschiedenen Staaten im Balkan und in den Kolonien immer mehr aneinander. Im Balkan kämpften Österreich-Ungarn und Serbien darum, wer faktisch den grössten Einfluss in der Region erringen kann. Österreich-Ungarn stand dabei im Bündnis mit Deutschland und Italien (Mittelmächte), während Serbien ein Bündnis mit Russland besass, welches wiederum mit England und Frankreich verbündet war (Triple Entente).
1914 kam es zum Eklat. Der bosnisch-serbische Student Gavrilo Princip tötete in Sarajevo den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Gattin. Nach einem kurzen diplomatischen Austausch erklärte Österreich Serbien den Krieg. Russland erklärte darauf als „Schutzmacht“ Serbiens Österreich ebenfalls den Krieg, worauf Deutschland als Verbündeter Österreichs seinerseits Russland den Krieg erklärte, worauf wiederum England und Frankreich als Verbündete Russlands den Mittelmächten ebenfalls den Krieg erklärten. So war binnen weniger Tage aus einem regionalen Konflikt ein gesamteuropäischer Krieg geworden, den in dieser Form eigentlich niemand wirklich gewollt hatte.
Italien erklärte sich allerdings vorläufig neutral. Obschon an sich mit Österreich-Ungarn und Deutschland verbündet, erklärte es, dass das Bündnis nur für den Fall der Verteidigung gelte, wenn einer der drei Staaten angegriffen werden sollte. In diesem Fall greife es aber nicht. Allerdings begann Italien schon relativ bald mit der Triple Entente Verhandlungen. Konkret war es daran interessiert, sein Territorium im Norden auf Kosten von Österreich-Ungarn zu vergrössern. Nachdem die anderen Mächte der Entente dies im „Londoner Vertrag“ 1915 zugesichert hatten, erklärte Italien den Mittelmächten zum Krieg. Somit wurde die Alpengrenze – speziell Südtirol – zum Kriegsschauplatz. Für die nächsten drei Jahre standen sich Österreich-Ungarn und Italien als Kriegsparteien mitten im Gebirge gegenüber, um einen eigentlichen Gebirgskampf zu führen. Zwar starben sehr viele Soldaten – die meisten an Lawinen und Erfrierungen – aber grössere Gebietsgewinne konnte keine der beiden Seiten im Grenzbereich erzielen. Erst nach der Kapitulation der Mittelmächte 1918 kamen verschiedene Gebiete, darunter Südtirol, an Italien. Ein Punkt, der noch das gesamte 20. Jh. zu Spannungen führen sollte. Denn im Gegensatz zu den meisten anderen Gebieten, die an Italien fielen, war die Südtiroler Bevölkerung deutschsprachig und kulturell seit über einem Jahrtausend nach Norden ausgerichtet und Teil Gesamttirols. Entsprechend führte die anschliessende Italienisierungspolitik zu grossen Spannungen. Zu einer eigentlichen Beruhigung der Situation kam es langfristig erst mit der kompletten Umsetzung des Autonomiestatus 1992.
Der Alpenkrieg auf dem StilfserjochDie Region um das Stilfserjoch/Umbrailpass war nun in diesem Krieg besonders bedeutungsvoll, weil sich hier das „Dreiländereck“ befand, wo Österreich-Ungarn (Südtirol), Italien (Lombardei) und die Schweiz (Val Müstair) aneinandergrenzten. Entsprechend baute auch die Schweizer Armee im Grenzgebiet ihre Stellungen auf, um allfälligen Neutralitätsverletzungen militärisch zu begegnen. Der Alpenkrieg traf die Schweiz dabei nicht unvorbereitet. Bereits in den Jahrzehnten davor waren die Alpenfestungen ausgebaut worden. In Graubünden war es vor allem Theophil Sprecher von Bernegg, der während des Ersten Weltkriegs als Generalstabschef der Schweizer Armee fungieren sollte, welcher federführend war. Er war in seinen Analysen zum Schluss gekommen, dass zwar die Alpen gegen einen feindlichen Einmarsch guten Schutz boten; aber die Logistik zwischen den Bündner Tälern im militärischen Ernstfall zu schwach wäre. Deshalb setzte er sich vehement für einen Ausbau der Rhätischen Bahn ein. Nachdem er bereits ab 1880 im Verwaltungsrat der Vereinigten Schweizer Bahnen Einsitz nahm, wurde er 1897 in den Verwaltungsrat der Rhätischen Bahn gewählt, den er ab 1899 gar präsidierte. Unter seiner Führung wurde in dieser Zeit unter anderem die Strecken Reichenau-Ilanz und speziell die Albulastrecke gebaut, um den direkten Transport ins Engadin im Kriegsfall zu gewährleisten.
https://de.wikipedia.org/wiki/Theophil_Sprecher_von_BerneggDas Museum und die MilitärseilbahnenDas Museum selber ist zwar klein, aber fein gehalten. Es gibt einen interessanten Überblick über Stellungen in dieser Region. Erst dort hatte ich wirklich realisiert, wie „spannungsgeladen“ der Bereich des heutigen Stilfersjochs war. Praktisch exakt dort, wo sich heute die Hotels und Läden auf der Passhöhe tummeln, standen sich – im Abstand von wenigen dutzend Metern – die Österreichischen, Italienischen und Schweizer Stellungen gegenüber. Bilder, Pläne und Rekonstruktionen erlauben einen guten Einblick. Interessant ist, dass dabei auch archäologische Methoden benützt werden, indem die Ausgrabungen im Bereich des Stilfserjochs/Umbrailpass als „Archäologische Fundstelle des Monats August 2015“ erkürt wurde.
http://www.engadin.com/natur-kultur/kultur/archaeologische-fundstelle-des-monats/?S=1&R=1Für uns speziell interessant ist die Bedeutung der Seilbahnen. Hans Dieter Schmoll hatte in seiner „Welt Seilbahngeschichte“ zu Recht geschrieben, dass der Erste Weltkrieg – im Gegensatz zum Zweiten – ein eigentlicher Seilbahnkrieg war. Beide Kriegsparteien errichteten Materialbahnen zu ihren Stellungen in Schnee und Eis. Dies war auch in den Filmausschnitten im Museum gut zu sehen. Dort wurde anhand von Filmausschnitten jener Jahre das Leben in den Gletscherstellungen und der Transport der Logistik dort hinauf gezeigt. Mit Mauleseln und -tieren, sogar mit Ponys wurde versucht, das Material zu transportieren. Allerdings zeigte sich schnell, dass praktisch nur die Materialbahnen eine halbwegs effiziente Versorgung gewährleisten konnten. Entsprechend wurden während des Krieges auf beiden Seiten wesentliche Weiterentwicklungen gemacht. Die wohl wichtigste Erkenntnis kam wohl vom Ingenieur Luis Zuegg aus Südtirol, der zu den österreich-ungarischen „Seilbahntruppen“ gehörte. Bis dahin war die Fachwelt davon ausgegangen, dass die Tragseile einer Seilbahn nur schwach gespannt werden dürfen, da eine stärkere Spannung sie gefährden würde. Dies bedingte entsprechend den Einbau einer Unmenge von Stützen. Deshalb waren unter anderem auch die Bahnen auf das Vigiljoch und in Chamonix (Les Pelerins – La Para – Les Glaciers) mit einer schwachen Seilspannung und den zahlreichen Stützen gebaut.
Während des Krieges wurde einmal für eine dringend benötigte Bahn das Seil zu kurz geliefert. Das heisst, es entsprach aufgrund seiner Länge und damit der Abspannung nicht den gültigen Vorschriften. Im Einverständnis mit seinem Vorgesetzten montierte Zuegg kurzerhand die Seile und liess sie stärker abspannen. Dabei stellte er fest, dass sich die Seile weniger bogen und abnutzten. Er entwickelte dies weiter und liess es nach dem Krieg patentieren. Erstmals in grösserem Umfang angewendet wurde es 1924 bei der Haflingseilbahn. Dieses Patent wurde von Bleichert übernommen, worauf es ab den 1920er Jahren als „System Bleichert-Zuegg“ ein Grosserfolg wurde.
Sommerski auf dem StilfserjochUnd nun wieder zurück zur Reise. Vom Münstertal fährt zwar über den Umbrailpass ein Postauto auf das Stilfserjoch – allerdings nur einmal täglich! Immerhin ist es für Skifahrer relativ zeitfreundlich, indem es um 9.20 Uhr in Santa Maria abfährt und um 10.05 Uhr auf dem Stilfserjoch sein sollte. Allerdings fährt das Postauto grundsätzlich nur auf Voranmeldung (bis 19.00 Uhr am Vortag). Wir hatten uns zwar angemeldet, stellten aber in Santa Maria fest, dass derart viele Unangemeldete kamen, dass das Postauto nicht genügend Sitzplätze aufwies. Da ein Ersatzpostauto nicht aufgeboten werden konnte, mussten wir während der Fahrt mit „Stehplätzen“ vorlieb nehmen. Immerhin fuhren wir durch eine beeindruckende Landschaft und der Fahrer wies regelmässig auf interessante historische oder geographische Besonderheiten hin, sodass sich die Fahrt kurzweilig gestaltete. Auch auf die Standorte der Stellungen wurde kurz vor dem Pass speziell hingewiesen.
Und damit stand ich nun auf dem Stilfserjoch. Das Interesse am Alpenkrieg an dieser Stelle hatte die Freude am kommenden Skifahren fast, aber nicht ganz überdeckt. Rasch miete ich mir zu meinen mitgebrachten Skischuhen ein paar Skier und ab ging es auf den Gletscher. Das nachfolgende ist nun rasch erzählt. Die meisten von euch kennen das dortige Skigebiet aus eigener Anschauung besser als ich.
Die Luftseilbahn vom Stilfserjoch zur Station Trincerone.
Die zweite Sektion, der Funifor zur Station Livrio.
Oben angekommen war ich überrascht, wie stark der Gletscher im Bereich der Geisterlifte bereits ausgeapert war. Wenn ich aber vovos Bericht vom 20.08.2011 anschaue, scheint er sich ungefähr im damaligen Zustand zu befinden. Die Talstationen der Geisterlifte sind – wie auch die Bergstationen – komplett im Fels verankert.
Frappant ist der Unterschied zwischen dem oberen Teil, der noch relativ gut zu fahren ist, und der untere Teil, der mehr oder wenig als steinig und wässerig bezeichnet werden kann.
Nachfolgend der Skilift Payer. Hier musste ich bloss für die Rückfahrt etwas länger anstehen. Im Gegensatz zu Saas-Fee scheint es mir, dass hier die Trainingsmannschaften gegenüber den „Individualskifahrern“ die Mehrheit bilden.
Und zum Abschluss des Skifahrens schliesslich noch der Skilift Cristallo. Obwohl ebenfalls ein Neubau, erinnert er wie der Skilift Payer etwas an die „klassischen“ Skilifte im italienischen Stil der 1960/70er Jahre.
Rückkehr ins MünstertalAuf Mittag hin fuhr ich wieder zurück, damit ich den 12.21 Uhr-Bus nach Stilfs erwische, der sich im Laufe der folgenden 50 Minuten die eindrückliche Passstrasse in 48 Kehren hinunterschlängelte. Dazwischen gab es eine wunderbare Sicht auf den Ortler (3’905 m.ü.M.), wo während des Krieges mindestens vier schwere Geschütze der österreichisch-ungarischen Stellungen durch russische Kriegsgefangene heraufgezogen wurden. Vom Transport und der Aufstellung gab es im Museum in Santa Maria eindrückliche Bilder.
Nach einer kurzen Pause in Stilfs ging es mit einem weiteren Bus weiter nach Glurns, von wo aus das Postauto wieder zurück ins Münstertal fuhr. Dies war in skifahrerischer Hinsicht das Ende eines interessanten Tages, der nicht nur ins bekannte Sommerskigebiet führte, sondern gleichsam auch ein Jahrhundert zurück in eine Zeit, als auf dem Stilfserjoch ganz andere Bedingungen herrschten.