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28.12.2005 - Artavaggio
Es schneit leicht aus den tief hängenden, dunkel grau-blauen Wolken, als wir die wohlige Wärme des Hauses verlassen und zum Wagen gehen. Der letzte Schluck Kaffe wärmt noch von innen, den letzten Reiseproviant unter dem Arm, wir brechen auf zu dieser Reise, auf die ich mich beinahe ein Jahr lang schon freuen konnte. Selten bin ich so winterlich in den Schiurlaub gestartet: es schneit aus dicken Flocken, Oberschwaben ruht unter einer dicken weichen Schneedecke versteckt, während ein Morgen dämmert, der bei diesem Wetter quasi keiner ist.
Unser ursprüngliches Ziel - auf dem Säntis zu frühstücken und eventuell die Schiabfahrt zu machen - haben wir nachdem sich ein solches Wetter schon abgezeichnet hatte - wieder fallen gelassen. So haben wir Zeit, in Ruhe in jenen doch recht abgelegenen Teil Italiens zu fahren und nebenbei noch unterwegs ein paar Dinge anzuschauen. Die Viamalaschlucht nördlich von Thusis zum Beispiel. Das erste mal bewusst wahrgenommen habe ich dieses geniale Landschaftsbild aus Felsen und Schründen im Sommer 2003 als ich die Schlucht mit dem Fahrrad durchquert habe. Seitdem habe ich dort immer wieder die Autobahn verlassen, um die Landstraße zu fahren, wo man dann durch den alten rohbehauenen, spärlich beleuchteten Tunnel fährt und hinter einer Kurve plötzlich die Felsmauern weichen und man auf einer gigantisch hohen Brücke die nur wenige Meter breite, aber faszinierend tiefe Schlucht durchquert! Hier bietet sich denn auch die Möglichkeit zu parken und dieses Wunderwerk der Natur in Ruhe zu genießen. Nun ist es mit der Ruhe im Sommer vielleicht nicht soweit her, es gibt wohl kaum ein Reisebusunternehmen, das die Stelle nicht kennt. Im Winter jedeoch ist dort kein Mensch, nichts.... Geradezu gespentisch wirkt die Schlucht dann im Vergleich zum Trubel des Sommers, aber irgendwie auch noch schöner, wenn der Schnee dick auf den Felssimsen liegt, den Schall dämpft und dazwischen in der Tiefe pechschwarze Wasser seinem Lauf folgt wie seit Urzeiten.
Faszinierend der Kontrast aus dem tiefweißen Schnee und dem schwarzen Wasser in der Tiefe...
Einsam steht die Blackbird auf dem Busparkplatz....
Unsere weitere Reise führt uns durch den St. Bernadino Tunnel nach Bellizona und schließlich Lugano und Como, wo wir die Atubahn verlassen und hinüber nach Lecco auf der Landstraße kreuzen. Wobei
Landstraße?? Vor fünfzig Jahren vielleicht einmal, heute sind die Ballungsräume nördlich der Großstadt Mailand so wild und uferlos gewachsen, dass man quasi durch ein einziges riesiges Siedlungs- und Gewerbegebiet fährt - ohne Zentrum, ohne Charme. Ziemlich schrecklich ehrlich gesagt. Das ist mir schon bei früheren Reisen immer wieder aufgefallen, meistens habe ich aber die Staatsstraßen vermieden und bin gleich über die Autobahnen gefahren. Diesmal jedoch wäre es ein allzu arger Umweg, andererseits: entspannter ist es allemal als sich vierzig Kilometer lang durch Vorstädte und Industriegebiete zu kämpfen - die noch dazu in einer Landschaft stehen, derer sie schlicht spotten.
Immerhin: auf halber Strecke, findet sich eine sehr interessante Loren-Seilbahn, die zu einem Steinbruch gehört und anscheinend mehrere Kilometer misst. Sie scheint recht alt zu sein, der Optik nach aus den fünfziger oder sechziger Jahren und sie sieht der den Stützen nach der Indrenbahn recht ähnlich, die Loren wiederum sehen aus wie die der Baubahn neben der Indrenbahn. Vielleicht schaue ich mir das im Sommer mal genauer an, für Bilder war im Vorbeifahren leider keine Zeit.
In Lecco trift man auf den Comer See. Bizarr wirkt dieser, wenn er - selten genug - tief verschneit ist. Und mal wieder holt uns das gute alte Italien ein: ohne eine Wanderkarte der Region im Maßstab 1:50.000 hätten wir die Straße hinauf ins Val Sassina wohl ewig gesucht. Nach einem steilen Anstieg kommt man auf eine weite Hochfläche, wo unter anderem die Schiorte Barzio und Moggio liegen. Die im Sommer sehr liebliche Landschaft bezaubert - wenn auch auf eine andere Art - auch im Winter. Die tiefe und sonnige Lage, der nahe See: so gar nicht alpin wirkt diese in der anderen Jahreszeit mit üppiger Vegetation ausgestattete Landschaft. In früheren Zeiten muss sie einst quasi der Balkon für Lecco und Mailand gewesen sein, deutlich sieht man, dass diese Tallandschaft schon lange vor dem Skilauf von touristischer Bedeutung war. Auch ist das Winterklientel wohl sehr familiär: oft sieht man Enkel, Großeltern und Eltern und ganze Großfamilien am Straßenrand durch die Winterlandschaft spazieren, sympathisch irgendwie und außerdem so wunderbar überhaupt nicht hektisch.
Anderseits zeichnet sich auch hier ab, dass zumindest der Wintertourismus heute in anderen Bahnen verläuft: spätestens das stillgelegte Schigebiet von Moggio - das Pian di Artavaggio - spricht Bände. Trotz seiner idealen Lage und Erreichbarkeit, stellte die Zubringerpendelbahn etwa um das Jahr 2000 herum den Betrieb ein. Die großen Appartmentblocks an ihrer Talstation am oberen Ortsausgang - die architektonisch leider schon etwas negativ aus dem Rahmen fallen - zeugen davon, dass die Hochzeit des Schitourismus auch hier wohl eher in den frühen 60er Jahren lag. Somit dürfte damit auch klar sein, warum die Bahn mittlerweile stillsteht: sie hat wohl wie so viele Bahnen die berühmte Altersgrenze von 40 Jahren (gesetzliche Grenze) erreicht und es fehlt an Geld (und / oder Initiative) zum Ersatz. Fast alle stillgelegten Schigebiete in dieser Region haben quasi das gleich Problem: sie stammen fast alle aus den 50er und 60er Jahren und die Zubringeranlagen sind meist noch original. Somit haben sie alle in den letzten Jahre jene magische Altersgrenze erreicht, wo der Gesetzgeber Neubau oder umfassende Modernisierungen vorschreibt. Und beinahe immer sind diese an fehlenden Rücklagen oder mangelder Motivation gescheitert. Letzteres mag auf den ersten Blick unverständlich erscheinen, erklärt sich aber dadurch, dass diese Anlagen meist in Privateigentum stehen. Nun sind aber die Eigentümer oft ebenfalls mittlerweile in die Jahre gekommen oder gar verstorben, und den Erben wiederum fehlt oft das nötige Herzblut, die alten und meist nur gerade so rentablen Schigebiete mit dem damit verbundenen finanziellen Risiko zu modernisieren.
Dazu kommt, dass diese Schigebeite beinahe allesamt deutlich zeigen, dass zum Zeitpunkt ihrer Erschließung andere Prämissen beim Schilauf galten. Sie stammen aus einer Zeit als man noch Winterurlaub machte und nicht Schiurlaub. Schon aufgrund mangelnder Pistenpräparation und dem damaligen Schimaterial kam so etwas wie "Kilometerfressen" für die meisten Schiläufer konditionsmäßig überhaupt nicht infrage. Zumal ohne glatt gebügelte Autobahnpisten und Carvingski wohl auch die Mehrzahl des sicher schon damals eher familiären Klientels gar nicht über die nötige Fahrtechnik verfügte, tausende Höhenmeter auf anspruchsvollen Pisten jeden Tag zu machen. Schlussendlich war es möglicherweise für manche auch eine finanzielle Frage, nicht jeden Tag einen Skipass (oder vielmehr Liftabonnement wie es damals hieß) zu kaufen. Sicher gab es zumindest auch in den späten Sechziger Jahren schon größere Schigebiete mit anspruchsvolleren Pisten, so richtig in Mode kamen die Riesengebiete aber erst in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre und in den Achtzigern, wie die alten Liftpläne mit den Unmengen Projekten ja auch deutlich zeigen. Zumindest hier - in den sonnigen und gemütlichen südlichen Ausläufern der italienischen Alpen - war jedenfalls zum Zeitpunkt der Erschließung in den fünfziger und frühen sechziger Jahren eindeutig Winterurlaub mit der
Nebenbeschäftigung Schilauf angesagt.
So sind die Erschließungskonzepte auch völlig unterschiedlich zu heutigen Erschließungen. Es beginnt damit, dass die Zubringeranlagen quasi immer relativ zentral in den Orten beginnen. Nicht das heute keine ortsnahen Liftzubringeranlagen mehr gebaut würden, aber den umgekehrten Fall - die Seilbahn mit dem Großraumparkplatz ein paar Kilometer vor dem Ort, die dem Tages- und Bustourismus besser gerecht wird - gab es damals nicht. Auch wurden Seilbahnstationen selten so geplant, dass größere Parkmöglichkeiten zur Verfügung standen. Trotz der rasanten Verbreitung des Automobils ging anscheinend niemand davon aus, dass eine größere Anzahl der zu erwarteden Gäste mit dem eigenen PKW zur Seilbahnstation anreisen wollen würde.
Umgekehr hat das Konzept, Bahnen möglichst ortsnah zu platzieren, oft zu interessanten Trassen geführt, weil die gewachsenen Ort eben nicht so optimal lagen, wie es für eine direkte Erschließung nötig gewesen wäre. So quert beispielsweise die Zubringerbahn zum Pian di Artavaggio in Moggio erst einmal ein Tal. Heute undenkbar, da dies eine Talabfahrt entweder unmöglich macht oder zumindest mit einem längeren Fußmarsch auf dem Rückweg verbindet. Dass man die Bahn dennoch so genbaut hat, zeigt deutlich, dass das primäre Ziel nicht war, eine Bahn mit Talabfahrt für Wiederholungsfahrten zu bauen, sondern die Wintergäste auf die Hochfläche zu bringen.
Und à propos Hochfläche: das ist quasi der nächste interessante Unterschied. Die Idee eine Hochfläche ähnlich der Seiser Alm, die relativ wenig Gefälle und nur sehr geringe Höhenunterschiede bietet, für den Schilauf zu erschließen, mutet heute auch etwas seltsam an - noch dazu mit einer Unmenge kurzer Schlepplifte. Betrachtet man aber den Hintergrund der Erschließung, beginnt man das Konzept zu begreifen: die Hochfläche sollte touristisch und nicht rein für den Schilauf erschlossen werden. Sie sollte ein tolles Panorama bieten, die Möglichkeit zum Winterwandern, Rodeln und eben all den kleinen Facetten, die den Familienwinterurlaub - der nicht ein reiner Schiurlaub ist - prägen. So findet man dort oben auch quasi mehr Hütten und Restaurants als Lifte. Die Unmengen kurzer Schlepplifte wiederun erklären sich mit dem Gedanken mangels kapazitätsstarker Anlagen, die Schifahrer etwas besser zu verteilen. Dass sie alle nur geringe Höhenunterschiede erreichen, schien damals niemanden zu stören: für sportliches Schifahren verfügten anscheinend die große Mehrzahl der Schifahrer weder über die Technik, noch die Kondition (wie gesagt man bedenke mangelnde Präparation und die schweren zwei Meter Schi) noch überhaupt das Interesse. Stattdessen bot die Hochfläche eben eine Menge andere Möglichkeiten, sich den Freuden den Winters hinzugeben - und zwar eben auch mit den Bambini und den Großeltern, die sicher jeweils weniger auf sportlichen Schilauf aus waren. So zumindest dürfte die Situtation noch Ende der fünfziger Jahre gewesen sein. Und für die wenigen Experten gab es dann ja immer noch die Talabfahrt.
Diese Konzepte findet man bei ganz vielen der alten Schigebiete der Region: Ortnähne, familiäres Ambiente und Winterurlaubsqualitäten. Genau das ist aber auch die Krux, die diese Schigebiete um ihre Existenz brachte: Winterurlaub als solcher ist heute - selbst im immer noch familienbetonteren Italien - weit weniger gefragt. Auch hier zählt mittlerweile das Schifahren, zumal Pisten, Skimaterial und Fahrtechnik heute auch demjenigen erlauben, der nur einmal im Jahr die Möglichkeit hat, schifahren zu gehen, von Skigroßräumen zu profitieren. Kurze Schlepplifte mit geringem Höhenunterschied sind da genauso wenig gefragt wie Talabfahrten, von deren Ende man zurück zur Funivia laufen muss. Und da man auch noch mit Vorliebe aussichtsreiche Plateaus in herrlicher Sonnenlage erschloss in einer Zeit, wo noch jeden Winter meterweise Schnee fielen, haben nun zu allem Überfluss all diese Schigebiete seit ca. zwanzig Jahren massive Schneeprobleme. Die geringe Höhenlage ist hier sogar nicht mal so das Problem - Schnee liegt oft mehr als anderswo fünfhundert Meter höher - aber eben nicht auf den Südhängen. Dort brennt die italienische Sonne selbst im Hochwinter intensiv - und das macht sich eben bemerkbar.
So sind in den letzten zehn Jahren sicher ein Drittel der Schigebiete der Region stillgelegt worden. Diejenigen, die überlebt haben, wie beispielsweise Barzio, bieten aber ein tolles, selten in dieser Form zu findendes Ambiente. Da Schifahrer heute aufrgund erhöhter Mobilität selektiver Schifahren, finden sich in diesen Schigebiete dann auch tatsächlich diejenigen, die dieses Ambiente schätzen, also quasi das, was von der Winterurlaubskultur übrig geblieben ist. Da wird am Rand der Piste gerodelt, Kinder bewerfen sich mit Schneebällen, ältere Ehepaare gehen spazieren und auch in Barzio gibt es quasi genauso viele Restaurants und Sonnenterrassen wie Lifte. Der Blick ist gigantisch, die Hänge sonnig und schön - hat man so viel Schnee wie wir dieses Jahr, dann könnte man fast meinen, ein Stück heile Welt wiedergefunden zu haben. Nicht, dass ich nicht immer noch Spaß daran hätte, in Frankreich neue Streckenrekorde auf Pisten aufzustellen (zumindest wenn sie nicht so überfüllt sind, wie die letzten Male, dass ich da war), aber irgendwie ist es auch gut zu wissen, dass es die Bergmasker Alpen gibt. So entspannt und gemütlich wie hier bin ich schon lange nicht mehr Schigefahren.
Aber ich greife vor, im Augenblick stehe ich nämlich noch vor einer der Funivie, die es nicht geschafft haben. Einsam hängen die Seile in Luft, leer ist der Parkplatz darunter.
Versuch einer Zoomaufnahme der Bergstation - aufgrund des schlechten Lichtes ein schwieriges Unterfangen. Man erkennt die einzige Stütze der Bahn und die Bergstation.
Doch es gibt auch Bestrebungen, den Schibetrieb wieder aufleben zu lassen, weil es ohne eben doch nicht geht. Diese ziehen sich nun schon seit ein paar Jahren hin, nicht zuletzt wohl auch - wie so oft - aus politischen Gründen und mangels Investor, wie mir scheint. Umso überraschter bin ich, dass eindeutig Bautätigkeiten zu erkennen sind. Das Stationsgebäude wurde modernisiert (und zwar gar nicht mal so schlecht, weil es durchaus gelungen ist, die alte Architektur des Gebäudes, vernünftig in den Umbau einzubeziehen).
Dieser Liftplan hängt über dem Eingang! Solche Kunstwerke findet heute wohl auch nur mehr selten.
Vor allem aber hängt am Bauzaun ein Schild: MEB Impianti! Also MEB baut diese Anlage wieder auf. Ein junger Mann, der seit Jahren dort in Moggio Urlaub macht, erzählt dann auch, dass die Anlage in der Tat modernisiert worden ist und dass man hofft, dass man sie zur nächsten Wintersaison endlich wieder in Betrieb nehmen könne, es aber nicht auszuschließen sei, dass es sich noch etwas hinzöge. Interessant! Wenn die Bahn offen ist, komme ich sicher wieder - nicht um Schizufahren - jedenfalls nicht nur - sondern vor allem, um dieses wunderschöne Hochplateau mit seiner herrlichen Landschaft zu genießen.
Da es schon dämmert, machen wir uns auf den Weg, die Straße nach Osten auf den Pass, der ins Val Brembana führt, zu fahren. Ich bin diese herrliche Straße schon einmal letztes Jahr gefahren - damals in die andere Richtung - als ich auf meiner ersten Erkundungstour durch die Bergamasker Alpen am letzten Tag aus dem Val Brembana nach Mailand gefahren bin, um k2k und Michael Meier zu unserer Alagnatour abzuholen. Die Straße ist gigantisch: größtenteils einspurig und oft völlig ohne Seitenbefestigung führt sie völlig abgelegen durch duch ein Seitental des Val Brembana von San Giacomo Bianco durch eine enge Schlucht in die Hochlandschaft Taleggio, wo einige kleine Dörfer stehen. Danach folgt sie über viele Kilometer völlig fernab jeglicher Zivilisation dem Tal, um an der hübschen und lichten Passhöhe 'San Pietro di Culmine' ins Val Sassina hinab nach Moggio zu führen, wo wir jetzt stehen. Während letzten Winter die Straße, völlig frei von Schnee war, erleben wir dieses Jahr das Gegenteil: hinter Moggio führt die Straße einsam in die weiße Wüste. Kein Mensch ist dort unterwegs, wir begegnen auf der gesamten Strecke keinem einzigen Auto. Aber ein Mordsspaß ist es, dort langzufahren.
Hinter der Passhöhe wissen wir auch warum die Straße quasi nicht befahren wird: sie ist nicht geräumt worden, allerdings dennoch geöffnet. Lediglich ein paar Jeepsspuren zeugen davon, dass in seltenen Fällen diese Straße auch wirklich befahren wird.
Auf der Seite des Val Sassina vor der Passhöhe wurde die Straße zumindest weitgehen geräumt.
Auf der Seite des Val Brembana, wo es viele Kilometer bis zur nächsten Ortschaft sind, nicht....
Wir haben den Pass überquert und langsam tasten wir uns den bewohnten Regionen dieser einsamen Hochtallandschaft entgegen. Es sind immer viele Kilometer bis zur nächsten Ortschaft, als plötzlich sämtliche Anzeigenleuchten im Amaturenfeld aufleuchten! Was ist passiert? Ich prüfe die Zusatzinstrumente: Öldruck: stimmt, Öltemperatur: normal, Bordspannung: moment... 12V. Das sind zwei Volt zu wenig!! Der Wagen fährt also auf Batterie, keine Einspeisung mehr durch die Lichtmaschine! Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wie so etwas passieren kann: entweder ist der Spannungsregler an der Lichtmaschine kaputt (bzw. die Schleifkohlen sind abgenutzt), oder der Generatorkeilrippenriemen ist gerissen. Einen Spannungsregler habe ich dabei, den könnte ich schnell einbauen, aber den Generatorriemen - den ich normalerweise auch immer als Ersatzteil mitführe - habe ich für diesen Wagen noch nicht gekauft!
Ein Blick in den Motorraum an der nächsten Ausweichstelle, bestätigt meine Befürchtung: es ist in der Tat der Keilriemen am Generator gerissen! Das ist bitter, weit wird der Wagen nicht mehr fahren. Benzineinspritzmotoren brauchen nun einmal Strom für Einspritzung und vor allem elektrische Zündung des Gemischs, und zwar nicht gerade wenig! Das letzte Mal, das mir das passiert ist - damals noch mit einem Kleinwagen - hatte ich noch wenige Kilometer, bis der Motor endgültig ausging. Bei ca. 10V Restbordspannung, schaltet die komplette Anlage aus Sicherheitsgründen automatisch ab. Jetzt hängt alles von der Leistungsfähigkeit respektive Kapazität der Batterie ab. Wenn wir hier oben liegen bleiben, findet uns nie jemand!
Also Licht aus und in der Dämmerung so schnell es geht die enge stille Bergstraße hinab. Die Kilometer ziehen sich und ziehen sich. Die Bordspannung fällt konstant ab, aber erstaunlicherweise bei weitem nicht so schnell wie ich gefürchtet hatte. Als wir die ersten Lichter sehen, atmen wir auf - wir jetzt bei 11,5 Volt etwa.
Doch gefehlt: es handelt sich nur um die äußerste Behausung des Tales, das nächste Dorf ist immer noch Kilometer entfernt und die Straße kaum breiter oder besser geräumt als oben. Die Dämmerung schreitet voran, zumindest um das Standlich komme ich jetzt nicht mehr herum. Weitere bange Minuten verstreichen als ich so schnell es die engen verschneiten Bergstraßen erlauben, durch die dunkelblaue Winterdämmerung fahre. Parallel versucht meine Freundin fieberhaft aus meinen diversen Wanderkarten der Region, die noch zurück zulegenden Distanzen zu bestimmen. 11,4 V.... 11,3 V ... 11,2 Volt... Dort! Die ersten Licht von Taleggio tauchen auf, wir sind im Dorf.
Doch die Freude währt nur kurz: irgendwie hatte ich dieses Dorf belebter in Erinnerung. Stattdessen nur einige wenige spärlich belauchtete Häuser, eine Bar, kein Hotel, kein Gasthof, kein öffentliches Telefon, nichts. Wir stehen mit laufendem Motor am Straßenrand - ich traue mich nicht ihn abzustellen - und überlegen. Ich weiß noch, dass San Giacomo am Ende der Straße eine größere Ortschaft ist. Dort gibt es in jedem Fall Hotels, aber mit etwas Glück vielleicht sogar auch eine kleine Werkstatt. Denn selbst mit einem Hotel wäre es sehr ärgerlich liegen zu bleiben. Nicht so fatal wie hier oben, aber dennoch würde es bedeuten, dass gebuchte Hotel im Zielort an diesem Abend nicht mehr zu erreichen (und wahrscheinlich trotzdem bezahlen zu müssen), ein neues suchen und am nächsten Tag irgendwie versuchen zu müssen den Wagen zur nächsten Werkstatt zu bringen, was auch wieder teuer werden könnte. Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass wir erst recht nicht hier oben in diesem verlassenen Nest bleiben können. Aber weiterfahren? Hier, wo wir jetzt sind, dort gibt es zumindest Menschen, Wagen die uns zur Not vielleicht abschleppen können, ein Telefon, jemand der sich auskennt. In der Schlucht die jetzt kommt, gibt es nichts, gar nichts. Wenn wir dort liegen bleiben... . Außerdem erinnere ich mich noch an die Straße in der Schlucht: extrem eng, schwierig zu fahren und sehr gefährlich, wir werden mit voller Beleuchtung fahren müssen. Außerdem hat die Durchfahrung damals Ewigkeiten gedauert. Und in der dunklen Schlucht ohne Licht liegen zu bleiben... .
11,1 Volt.... Wir müssen uns schnell entscheiden. Hier oben können wir nicht bleiben. Die Straße hinab ist wenigstens gut geräumt, und es verkehren immerhin auch einige wenige Autos. Sollten wir wirklich im Dunkeln liegen bleiben, kann ich den Wagen zur Not mit der Maclite sichern. Wir müssen nur zusehen, dass wir nicht in einer engen Kurve oder einem Tunnel liegen bleiben: also weiter die Bordspannung beobachten und los geht es hinab in die finstere Schlucht. Mit Abblendlicht sind wir mittlerweile bei knapp unter 11 Volt. Enge dunkle Kurven, und eine märchenhafte Winterlandschaft, die an die Viamala erinnert. Und doch: ich habe mich getäuscht, ich habe die Länge der Schlucht überschätzt. Es sind immer noch einige Kilometer bis San Giacomo, aber nicht so viele wie ich dachte, vielleicht sieben oder acht Kilometer. Vor allem: es gibt einen Tunnel! Der engste und mit Abstand krasseste Teil der Schlucht kann heute nicht mehr befahren werden.
Am Ende erreichen wir schließlich den Ort, die Bordspannung liegt immer noch bei etwa 10,8 Volt. Wir halten an der Apotheke, meine Freundin springt aus dem Wagen und fragt nach einer Werkstatt und ja, es gibt eine: ca. einen Kilometer talabwärts im Ort. Geschafft! Allein: der Blick auf die Uhr macht mir Sorgen. Es ist zehn vor sechs, wir befinden uns immer noch in einer recht abgelegenen Gegend, noch dazu ist es die Woche zwischen Weihnachten und Neujahr. Wird die Werkstatt überhaupt offen haben? Ich beginne stark zu zweifeln. Wir fahren und fahren, dann hinter einer Kurve, taucht unvermutet die kleine Werkstatt auf, es brennt noch Licht. Wir gehen hinein, eine kleine enge Ein-Mann Werkstatt. So gut es geht versuchen wir unser Problem auf italienisch zu schildern. Der Mechaniker ist zumindest bereit, sich die Sache einmal an zusehen, wir fahren den Wagen in die Werkstatt (die Batterie hat übrigens sogar noch für zwei Starts des Wagen gereicht!). Ich mache mir etwas Sorgen, der Generatorkeilriemen ist beim Audi 90 aufgrund des großen Triebwerks und der Tatsache, dass alle Nebenaggregate separat angetrieben werden (zum Glück! - ohne Wasserpumpe wärs kritisch geworden!), etwas schwierig zu erreichen. Auch sind die Teile selten, oft muss selbst Audi bestellen.
Wir fahren den Wagen auf die Hebebühne, eine halbe Schneelawine löst sich aus dem Motorraum und vom Boden. Wir tragen ersteinmal ein paar Minuten den Schnee aus der Werkstatt. Der Mechaniker schaut sich den gerissenen Keilriemen - der zum Glück noch im Bereich der Stoßstange liegen geblieben ist - kritisch an, runzelt die Stirn. Mittlerweile ist ein Freund gekommen, sie diskutieren, schauen sich mehrere Riemen an, am Ende finden sie einen passenden. Endlich, huh.... Erleichterung kommt auf. Während der Mechaniker schraiubt, unterhalten wir uns mit seinem Kumpel so gut es geht in gebrochenem italienisch. Er fragt - wohl aufgrund des ganzen Schnees - von wo wir gekommen sind. "Val Sassina",- antworte ich. Er versteht nicht. "Moggio, Val Sassina", wiederhole ich, ebenfalls erfolglos. Er fragt etwas, was mit einer anderen Straße zu tun hat, ich schüttele den Kopf. "Nein, nein, Taleggio, die Straße vom Val Sassina über San Pietro Culmine." "San Pietro Culmine???". Er reißt die Augen auf. "Ist die denn offen??". "Ja", sage ich und etwas schmunzelnd Richtung Schnee schauend, "aber nicht geräumt." Er fängt laut an zu lachen, "ihr spinnt doch!" (oder sowas ähnliches). Er ruft zu dem Mechaniker rüber "ey, die sind von San Pietro rüber gekommen". Beide lachen und sagen nochmal etwas wie "ihr spinnt ja", dennoch, es war auch etwas anerkennendes in diesem Lachen.
Das einzige was mir jetzt noch Sorgen macht, ist die Rechnung. Es ist ziemlich offensichtlich, dass wir auf diese Reparatur sehr angewiesen sind... meine Befürchtungen sollen sich aber nicht bewahrheiten. Im Gegenteil, ich glaube im ersten Moment, ich habe mich verhört. "Zwanzig Euro??" - da kostet ja der Riemen mehr als die Reparaturarbeit! Ich bin beeindruckt, dass jemand mir um zehn vor sechs abends noch meinen Wagen repariert, dazu für zwanzig Euro mit der halben Werkstatt hinterher voll Schnee... das will ich in Deutschland mal erleben. Da heißt höchstens "Kommen Sie doch bitte morgen früh wieder, dann können Sie mit unseren Servicemitarbeiter einen Termin verabreden." Um es kurz zu machen, es ist meinerseits nicht ganz bei den zwanzig Euro geblieben, irgend wollte ich das dann schon honorieren. So verabschieden wir uns also freundlich lachend, und eine Erfarhung, die ich schon früher immer wieder in solchen abgelegenen Gegenden gemacht habe (übrigens in Deutschland auf dem Land genauso wie in Italien und anderswo), bewahrheitet sich erneut: manche Dinge gehen hier schon noch etwas natürlicher und hilfsbereiter zu als bei uns in der Großstadt. Natürlich verdient der Junge Geld damit, dass er Autos repariert. Aber er hat seine eigentliche Arbeit liegen lassen, um unseren Wagen flott zu machen, noch dazu quasi nach Feierabend (es ist zehn nach halb sieben als wir wieder losfahren), und er hat nicht versucht, uns abzuziehen. Schönes Gefühl, sowas mal wieder zu erleben. Ist schon ein bisschen her, das letzte Mal.
Wenig später erreichen wir unser Hotel in Mezzoldo, wo uns ein köstliches Abendessen erwartet (u.a. Kastanienravioli in zerlassener Butter mit frischem Parmesan). Geschafft fallen wir in unsere Betten und schlafen. Und - um die letzten Zweifel zu beseitigen - die Keilriemen läuft jetzt seit zweieinhalbtausend Kilometer problemlos, der Mann hat saubere Arbeit geleistet.
Zum nächsten Tag: 2. San Simone, 29.12.2005.
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