Mittwoch, 20.2.2008, 13:40.
Jetzt ist die große Frankreichtour also endgültig vorbei, gerade habe ich k2k am Bahnhof in Bozen abgesetzt. Aber was nun? Sabine wird erst morgen Abend mit dem Zug nach Gastein kommen, daher muß ich mir noch irgendetwas überlegen für den Donnerstag. Sollte auf jeden Fall etwas Neues sein. Was hätte es denn hier in der Nähe? Laguzoi wäre ein Kandidat, ebenso Gitschberg – Meransen, die weiße Pyramide, die mich immer beim Nordwärtsfahren auf der Brenner-Autobahn in Südtirol fasziniert hat. Brixen, Sterzing, Ladurns oder Sexten, alles auch Gebiete, für die ich sicher nicht extra herfahren würde. Aber nach den 3 französischen Groß-Schigebieten in den letzten Tagen ist mir so gar nicht nach Pistenschilauf und so entschließe ich mich spontan zu einem Ziel, das eine Kombination aus Einsamkeit, schweißtreibendem Aufstieg und Lift-Archäologie verspricht: Hühnerspiel!
Einersesselbahn in zwei Sektionen von Gossensaß, die untere Teilstrecke bereits abgebaut, der obere Lift mit 800 m Höhenunterschied von der Hühnerspielhütte aus noch vorhanden, aber schon 15 Jahre außer Betrieb.
Nachdem das Ganze ein ziemlicher Hatscher sein dürfte, ziehe ich zunächst den Straßenatlas zu Rate und finde einen Fahrweg, der von Sterzing aus in Richtung Hühnerspielalm zieht. Also wieder auf die Autobahn, Abfahrt Sterzing und rasch gewinne ich ca. 200 bis 300 Höhenmeter auf einer schmalen Bergstraße, die jedoch plötzlich unvermittelt in eine Rodelbahn übergeht und damit weiteres motorisiertes Fortkommen unterbindet. Am Parkplatz jedoch einerseits die Telefonnummer von einer offensichtlich am oberen Ende der Rodelbahn befindlichen Alm, andererseits auch der Hühnerspielhütte. Dort rufe ich an und frage, ob man von meinem Standort wohl auch dahin käme. Nein, es wäre besser vom eigenen Parkplatz etwas oberhalb von Gossensaß aufzubrechen, bis dorthin könne man auch mit Schiern wieder abfahren. Ich frage auch nach einer Übernachtungsmöglichkeit auf der Hütte. Ja, es gäbe zwar ein Lager, aber heute Nacht wäre eine Übernachtung nicht möglich.
Daher steuere ich den kleinen Ort Gossensaß an, im wahrsten Sinne des Wortes unterhalb der Brennerautobahn gelegen und suche erst einmal den Parkplatz der Hühnerspielhütte. Etwa 2 km talaufwärts Richtung Brenner zweigt vor der ersten Kehre eine schmale Straße ab und führt in einigen Serpentinen zu einem kleinen Parkplatz, dort parken einigen Autos und am Ende einer schneebedeckten Forststraße auch ein Schneemobil, daneben ein Wegweiser: Hühnerspielhütte 1 Stunde 30 Minuten. Großzügig geschätzt befinde ich mich maximal auf 1300 Meter Seehöhe, das wären morgen immerhin 1400 Höhenmeter bis zur Bergstation. Aber immerhin hatte ich in den letzten Tagen doch reichlich Höhentraining, also bin ich durchaus zuversichtlich. Zurück in Gossensaß frage im Tourismusbüro nach freien Zimmern. Ich werde in die Pension Alpenhof vermittelt, wo ich bald ein Einzelzimmer unter dem Dach beziehe.
Die alte Dame, die mir geöffnet hat, erzählt bereitwillig aus der Vergangenheit. Ein schönes Schigebiet sei es gewesen am Hühnerspiel, sie meint, der alte Besitzer hätte schon immer gewußt, wie man „Geld aus Rom“ bekommen konnte, die jungen wollten dann alles besser machen, hätten aber die Kontakte nicht gehabt und so wäre dann alles zugesperrt worden. Bis Mai hätte die Saison gedauert, berichtet sie, und auch weiß sie von einer Hängebrücke, die oben eigens errichtet worden wäre, nur um im Frühling noch den Ausgangspunkt der Abfahrt zu erreichen.
Abends ziehe ich mich nach einer reichlichen Mahlzeit im Alpenhof (unter anderem mit einer Riesenportion von köstlichstem Risotto) früh in mein Zimmer zurück, da ich spätestens um 7 Uhr losmarschieren möchte.
Der Wecker läutet um 6:15, das Zimmer habe ich schon am Vorabend bezahlt, Frühstück ist abbestellt (gäbe es erst um 8 Uhr) und soll auf der Hühnerspielhütte nachgeholt werden, daher ist es wirklich 7 Uhr, als ich mit aufgezogenen Fellen die ersten Schritte bergwärts mache. Irgendwie bin ich allerdings der Meinung, dass diese Ski-Doos eigentlich nicht hier parken sollten sondern oben bei der Hütte.
Ein paar Minuten dauert es, bis ich in den richtigen Rhythmus komme, in der letzten Woche ging es ja praktisch immer nur bergab, doch bald gleite ich zufrieden auf der durch Skidoo- und Schispuren planierten Forststraße bergauf.
Lange begleitet mich das monotone Geräusch der Fahrzeuge auf der Brennerautobahn und eine im Radio gehörte Geschichte kommt mir wieder in Erinnerung.
Lärm ist durchaus eine subjektive Empfindung und manchmal gleichen sich „angenehme“ und „unangenehme“ Geräusche objektiv gesehen nahezu komplett, führen jedoch je nach „subjektiver Zuordnung“ zu völlig unterschiedlichen Emotionen. Ein Japaner hatte sein ganzes Leben hart gearbeitet und erfüllte sich nach seiner Pensionierung einen lang gehegten Traum, er erwarb ein kleines Haus in ländlicher Umgebung direkt am Meer. Doch nach den ersten dort verbrachten Nächten war er sehr enttäuscht. Obwohl er darauf geachtet hatte, dass keine vielbefahrene Straße in der Nähe seines Grundstückes war, hörte er doch die ganze Nacht das Brausen einer hochfrequentierten Autobahn. Doch dann bemerkte er, dass es sich keinesfalls um Verkehrslärm handelte, sondern um das Rauschen des Meeres, die Geräusche der Brandung am Strand. Interessanterweise ähneln sich die Geräusche einer Autobahn und einer Meeresbrandung so sehr, dass sie angeblich mit Messinstrumenten nur äußerst schwer voneinander zu unterscheiden sind. Ob der Japaner allerdings durch diese Erkenntnis dann wirklich zufriedengestellt war, ist mir nicht in Erinnerung.
Trotzdem freue ich mich, als der Lärmpegel langsam nachlässt, vor allem, da ich daraus auch meine Aufstiegsleistung ablesen (bzw. abhören) kann.
Einige Male verlässt die Aufstiegsspur die Forststraße und führt etwas steiler aufwärts, gelegentliche Schläge erlauben einen Blick ins Tal.
Eine breitere Waldschneise entpuppt sich als die ehemalige Talabfahrt, wie man sieht, erobert die Natur langsam die frühere Piste zurück.
Nach etwa einer Stunde und 20 Minuten wird auch der Blick nach oben interessanter.
Die Baumgrenze ist überwunden und der Blick nach Nordwesten zeigt den Alpenhauptkamm, hier muß irgendwo der Sattelberg sein, der Gipfel des mittlerweile ebenfalls stillgelegten Schigebiets von Gries am Brenner, dem Ziel meines ersten Schulschikurses.
Rosskopf (Schigebiet von Sterzing)
Jetzt ist es nicht mehr weit zur Hütte
War die Bergstation eines kürzeren Schleppliftes im Bereich der Mittelstation
Hühnerspielhütte und zweite Sesselliftsektion
Nun wird mein Verdacht vom Beginn des Aufstiegs leider bestätigt. Die Hütte ist verschlossen, keiner öffnet meinem Klopfen, also wird es nichts aus dem erhofften Frühstück. Meine mitgebrachte Verpflegung ist leider für eine 1400 Höhenmetertour etwas bescheiden, zwei Müsliriegel und ein halber Liter Wasser.....
Naja, man ist ja nicht zum Spaß hier. Dafür gibt es ja etwas zu besichtigen:
Bergstation der ersten Sektion
Panorama aus besseren Zeiten
Und hier die sagenumwobene zweite Sektion
Talstation zweite Sektion
Um etwa 9 Uhr 15 schnalle ich wieder die Schi an und bewege mich langsam bergwärts. In Ermangelung einer Karte halte ich mich einfach an den Lift. Verlaufen wird man sich hier ja nicht können!
Zoom zum Rosskopf
Nachdem in der Nähe der Lifttrasse der Schnee bald Mangelware wird, schwenke ich durch die Botanik nach links, wo sich nördlich des Lifts eine der früheren Abfahrten befindet, Holzzäune hatten schon damals die Aufgabe, die Folgen des hier häufig starken Windes zu minimieren und den Schnee auf der Piste zu halten.
Ja, ja, dieses Bild ist hier wohl bekannt.
Nun stellt sich ein eigenartiger Effekt ein., einerseits vergeht die Zeit und ich plage mich, andererseits habe ich das Gefühl, überhaupt nicht vom Fleck zu kommen. Es ist 10 Uhr 25, ich bin also mehr als eine Stunde unterwegs, der Blick hinunter zur Mittelstation gaukelt mir jedoch einen Höhenunterschied von höchstens 100 Metern vor.
Nach einer weiteren halben Stunde dann das im Zoom der Kamera: Kann das schon der Gipfel sein?
Der Panoramablick zeigt, dass ich offenbar doch stark an Höhe gewonnen habe.
Es scheint also, dass die Topographie dieses Berges einen ziemlich in die Irre führt bezüglich der Höhenunterschiede. Der Lift steht in seiner gesamten Länge praktisch auf einem Hang, unten etwas steiler, in der Mitte flacher und vor dem Gipfel wieder leicht steiler, subjektiv schätzt man aufgrund der Optik einen Höhenunterschied von nur wenigen 100 Metern, aber real sind es doch 800 Höhenmeter von der Hühnerspielhütte bis zum Gipfel.
Kurze Zeit später habe ich dann freien (Zoom-)Blick zur Bergstation.
Langsam marschiere ich weiter, mich an immer schmaler werdende Schneebänder zwischen verfallenden Windschutzzäunen haltend und quere schließlich unter dem Lift nach rechts.
Für ein kurzes Stück muss ich dann doch die Schi abschnallen.
Ich bin nun seit der Mittelstation doch schon knapp 3 Stunden unterwegs, als ich mich endlich am Ziel befinde.
Nun ist mir auch klar, warum sich sogar bei Alpenkönigs Erkundungstour im Sommer im Stationsgebäude noch Schneereste gefunden haben.
Nachdenklich betrachte ich die Überreste des einstigen Stolzes der Gemeinde Gossensaß, dann schließe ich kurz die Augen......
Durch das sonore Brummen der Umlenkscheibe vernehme ich immer wieder das kurze Scheppern der Liftsessel an den Rollen der letzten Stütze, dann schließlich polternde Schritte, der erste Fahrgast ist ausgestiegen, tritt hinaus ins Freie, bewundernde Worte für das Panorama, die Sonne, den gleißenden Schnee. Jeder Sessel ist besetzt, die Gruppe vor der Station in der Sonne wird immer größer. Es ist der erste offizielle Betriebstag, viele aus dem Talort haben es sich nicht nehmen lassen, heute mit dem neuen Gipfellift zu fahren, der Gossensaß zu einem Wintersportplatz ersten Ranges machen soll. Eine kleine Feier wird veranstaltet, eine kurze Ansprache, vielleicht der Bürgermeister, hoffnungsfroher Ausblick in die Zukunft, gedankt wird den Ingenieuren für den raschen Bau und natürlich der Partei für die Organisation der Geldmittel. Ich höre, wie eine Flasche entkorkt wird, Gläser klingen, Trinksprüche und gute Wünsche. Dann ein anderes Geräusch, das ich zuerst nicht richtig zuordnen kann, aber sicher schon einmal gehört habe: ein leises Knarren, gefolgt von einem kurzen Klack, und gleich noch einmal und immer wieder. Plötzlich erinnere ich mich: Es sind die Federzugbindungen, die geschlossen werden, draußen vor der Bergstation, die ersten Schifahrer sind es, die der Lift heraufgebracht hat auf 2700 Meter Seehöhe.
Dann verschwimmen die Eindrücke, verschwinden die Stimmen, bis ich nur mehr das Geräusch des Liftes höre. Es klingt nun anders, rauer, unsauberer als zuvor, ab und zu mischt sich ein schrilles Surren dazwischen, die Sessel klappern irgendwie traurig über die Rollenbatterien, dann plötzlich – wie abgeschnitten - Stille, nur eine Türe schlägt irgendwo im stärker werdenden Wind. Eine Männerstimme - „Finito - das war´s!“, Schritte über den Holzboden, draußen dann das Klack-Klack einer modernen Sicherheitsbindung. Es wird die letzte Talfahrt sein für den Liftwart der Hühnerspiel-Bergstation.........
Ich öffne die Augen, kalt ist mir geworden in dem zugigen Gebäude und ich freue mich über die wärmenden Sonnenstrahlen draußen, dann steige ich weiter hoch, zwischen den Masten der Sendestation und dem verfallenden Stationsgebäude, am Grat entlang aufwärts.
Einige Minuten setze ich mich in die Sonne und genieße das Panorama. Leider hat es etwas zugezogen und das Licht wird diffuser.
Irgendwo da hinten war wohl früher einmal die zitierte Hängebrücke und die Einfahrt in die Grabenabfahrt.
Ich überlege kurz, ob ich diese Route hinunter wählen soll, entschließe mich dann aber doch für die Standardpiste im Bereich des Liftes. Unter anderem deshalb, weil der halbe Liter Flüssigkeit für die Anstrengungen des Aufstiegs viel zu wenig war und mir die Zunge am Gaumen klebt. Die Aussicht auf einen großen Apfelsaft in der mittlerweile hoffentlich wieder geöffneten Hühnerspielhütte hat etwas Unwiderstehliches.
Auch die Abfahrt besteht teilweise in einer logistischen Aufgabe, die richtigen Schneerinnen zu wählen, einmal muss ich aber dann doch abschnallen und quer durch die Botanik zum nächsten Schneefeld traversieren, doch die Abfahrt zur Mittelstation dauert – im Gegensatz zu den 3 Stunden Aufstieg – doch nur knapp 20 Minuten.
Blick in die Grabenabfahrt
Jetzt hat die Hütte endlich offen und binnen kurzer Zeit fülle ich mein Flüssigkeitsdefizit mit einem Liter Apfelsaft auf, auch die Gemüsesuppe ist sehr lecker. In der Hütte finden sich dann noch einige alte Bilder aus besseren Zeiten.
Hier die Hängebrücke:
Ein paar Schwünge in verharschtem Schnee gehen sich noch aus am oberen Teil der langsam zu wachsenden Talabfahrt, dann gleite ich die Forststraße hinunter zum Parkplatz. Ziemlich müde, aber zufrieden starte ich den Wagen um zur letzten Station meiner Reise, nach Gastein zu gelangen.
Hühnerspiel: ein Berg, der als einer der ersten Südtirols mit einer mechanischen Aufstiegshilfe erschlossen wurde, weniger deshalb, weil es sich um ideales Schigelände handelte, sondern weil er einfach da war in unmittelbarer Nähe der Brenner-Staatsbahn. Die ersten Schitouristen aus Norden und Süden kamen vornehmlich auf dem Schienenweg, um den Fortschritt im Schisport in Form des modernen Sessellifts zu erleben.
Später, mit der zunehmenden individuellen Mobilität durch das Aufkommen der Automobile, waren es andere Berge mit wohl besseren Schihängen, die, versteckt in Nebentälern, nun nicht mehr auf die Anbindung an die Eisenbahn angewiesen waren. Das bedeutete dann letzlich auch das Ende für den Schibetrieb am windausgesetzten oft abgewehten Gipfel oberhalb von Gossensaß.