Ein Sommer wie damals: Silvretta 2.7. – 6.7. 2007
Nach unserem Glockner-Ausflug (Link) ging es für Gerhard und mich gleich weiter nach Mittersill (Pinzgau), wo wir in einer kleinen Privatpension ein wenig Erholung suchten. Einzelzimmer und Dusche nach Massenlager und anstrengenden Wanderungen tun immer gut!
Am nächsten Vormittag machten wir uns dann auf die Reise in Richtung Silvretta, wo wir auf meinem Studienfreund Christian treffen wollten. Ohne Zeitdruck entschieden wir uns für die Route über den Gerlospass und genossen als richtige „Autotouristen“ die beeindruckenden Ausblicke auf die berühmten Krimmler Wasserfälle.
Bereits ab dem Gerlospass begann es dann zu regnen – teilweise in Form eines heftigen Platzregens. Der prasselnde Regen ließ Erinnerungen an die Sommer meiner Kindheit in den 1970er wach werden. Wie herrlich das war im Rückblick: Wochenlang die Vorfreude auf die großen Sommerferien – nur um dann Tag für Tag bang um Badewetter zu zittern, das mehr selten als oft eintrat. Oft stand ich am Fenster, die Gewitterfront beobachtend und hoffend, dass das Gewitter nicht doch in den gefürchteten kühlen Landregen übergeht, der oft tagelang ununterbrochen anhielt. Damals wusste ich noch nicht, dass diese Witterung Balsam für die Gletscher war und ihnen zur bislang letzten Vorstoßperiode verhalf. Erst als Jugendlicher – 1984 – kam ich das erste Mal ins Hochgebirge und die Gletscher zogen mich sofort in ihren Bann. Das war auf der Wiesbadener Hütte, in der zentralen Silvretta und der Ochsentaler Gletscher erreichte gerade seinen Höchststand in Folge einer Vorstoßperiode, die über ein Jahrzehnt angehalten hatte …
Nun, mehr als zwei Jahrzehnte später, hatte ich also wieder das gleiche Ziel und war neugierig auf den Zustand der Gletscher und auf all die Erinnerungen, die bei dem neuerlichen Besuch wieder auftauchen würden. Im Vorjahr hatte ich Berichte über die Gegend gelesen und wie mühsam die Hochtouren in der Silvretta bei einer sommerlichen Hitzeperiode sind: fehlender Nachtfrost sorgt für Sulzstapferei auf den Firnfeldern bereits am frühen Morgen, die Gletscherzungen sind übersät von gurgelnden Schmelzwasserbächen etc.
Nun, der Wetterbericht deutete eher auf Abkühlung hin mit sinkender Schneefallgrenze bis gegen 2000m. Alles in allem war ein Sommer wie damals zu erwarten …
Die Fahrt durch das regnerische Paznauntal geriet dann zu einer Folge von sich steigernden Schocks. Mein Entsetzen über die dortige touristische Architektur war so groß, dass ich, wenn nicht Christian am vereinbarten Ziel der Bielerhöhe gewartet hätte, am liebsten umgedreht wäre und irgendwo weiter nach Südtirol gefahren wäre (mit dem Bonus des wahrscheinlich auch besseren Wetters). Praktisch das ganze Tal besteht aus einer Abfolge sich in ihrer protzigen Hässlichkeit gleichsam gegenseitig zu übertreffen wollenden Architektursünden. Der Stil der förmlich aus den Boden schießenden Hotel- und Appartementblöcke mit Namen wie „Monte Bella“ oder „Mirabella“ erinnert dabei irgendwie an eine perverse Kreuzung zwischen der klassischen (ihrerseits schon unrühmlichen) Tiroler Lederhosenarchitektur und einer wieder auferstandenen Neoform des Stalinismus mit Anklängen von Ceaucescus Visionen seiner architektonischen Umgestaltung Bukarests in den späten 1980er Jahren. Im Tal scheint ein Wettkampf darüber ausgebrochen zu sein, wer bei gegebenen Bauvolumen ein Mehr an Türmchen, Erkern und sonstigen verunzierenden Beulen an dem
n-ten Hotel des jeweiligen Familenclans unterbringen kann. Mir ist zwar bewusst, dass Ästhetik auch und v.a. in der Architektur eine subjektive Kategorie darstellt, aber diese gesammelten Hässlichkeiten ließ mich tatsächlich an der Zurechnungsfähigkeit nicht nur der Bauherren sondern v.a. auch der dafür zahlenden Nächtigungsgäste zweifeln …
Als Stellvertreter für viele Bausünden im Paznaun
Zum Glück kamen wir jedoch zügig durchs Paznauntal und erreichten schließlich die Bielerhöhe (2030m) an der Tiroler/Vorarlberger Grenze, wo wir auf Christian trafen und bei nunmehr leichtem Nieselregen den gemütlichen Aufstieg zur Wiesbadner Hütte antraten.
Silvretta-Stausee mit wolkenverhangenen Silvrettabergen
Mit flottem Schritt (der Weg bzw. die Hüttenstrasse geht ja flach entlang des Stausees) ging’s zunächst voran, doch schon nach ca. 1km wurden wir plötzlich durch eine Panne gestoppt. Christians Uralt-Bergschuhe lösten sich aufgrund der Nässe plötzlich auf. Ein Blick auf die Uhr zeigte uns noch Chancen auf ein offenes Bergsportgeschäft in Galtür. Also schnell zurück zum Shoppen …
Im zweiten Versuch klappte dann der Aufstieg ohne zerfallende Ausrüstung und kurz vor 21h00 waren wir dann endlich auf der Wiesbadener Hütte, wobei wir immerhin die Gletscherzunge des Ochsentaler Gletschers als Aussicht beim Hüttenaufstieg genießen durften, wenn schon sonst alle Berge von Wolken verhüllt waren …
Zunge des Ochsentaler Gletschers – der mächtigste Gletscher der zentralen Silvretta und Ursprung der Ill
Für den nächsten Vormittag wurde ein Schönwetterwenster vorhergesagt, so dass wir uns den Piz Buin vornahmen, nicht nur eine bekannte Sonnencreme sondern auch der höchste Berg Vorarlbergs.
Die Wetterprognose hat uns nicht enttäuscht und am nächsten Morgen lachten die Silvrettaberge nicht nur im Neuschneekleid sondern auch in der Morgensonne.
Berühmte Silvrettagipfel (von oben nach unten): Piz Buin; Silvrettahorn; Schneeglocke und Schattenspitze
Durch das schöne Wetter motiviert ging es dann recht flott über das Moränengelände des stark zurückgegangenen Vermuntgletschers in Richtung Grüne Kuppe und von da zum mittleren Bereich der Zunge des Ochsentaler Gletschers, wo wir uns anseilten.
Bei der Grünen Kuppe werden wir mit einem schönen Ausblick zur Dreiländerspitze (3197m) und dem Vermuntgletscher belohnt – eines unserer Ziele für die nächsten Tage
Der Ochsentaler Gletscher ist gewissermaßen die Ausnahme in der Silvretta, da er als einziger einen ordentlichen Gletscherbruch mit haushohen Seracs und LKW-breiten Spalten vorweisen kann.
Der imposante Gletscherbruch des Ochsentaler Gletschers
Es gilt den ganzen Ochsentalergletscher unterhalb des Bruches zu überqueren und dann direkt ansteigend eine möglichst spaltenarme Linie zwischen Bruch und begrenzender Felswand zu finden. Trotz des Neuschneefalls der letzten Tage finden wir noch Anzeichen der alten Spur und können diese manchmal heikle Zone problemlos durchqueren.
Belohnt werden wir mit imposanten Einblicke in die Welt des Ochsentaler Gletschers
Silvrettaklassiker: Blick vom Gletscherbruch auf die beiden Buine – Gross (3312m, rechts) und Klein (3255, links); dazwischen die Buinlücke (3054m)
Im darüberliegenden Nährgebiet des Gletschers - einem weiten, flachen Firnkessel – ist der Neuschnee tiefer – hier dürfen wir nun unsere eigene Spur ziehen. Eine Seltenheit in der viel besuchten Silvretta! Dank unseres frühen Aufbruchs sind wir auch weit und breit die einzigen.
Das Wetter wechselt nun – aber immerhin haben wir den Piz Buin und die Anstiegsroute über die Westflanke klar vor Augen. Die Route führt über die Westflanke von rechts unten schräg nach links oben und umgeht die breite Felsmauer durch eine kaminartige Rinne in der Nordwand.
Nach etwas monotoner Schneestapferei erreichen wir den Fuß der Westflanke und ich übernehme die Spurarbeit. Offensichtlich sind wir die ersten nach der vergangenen Schlechtwetterperiode und die sonst gut sichtbaren Steigspuren in der Flanke sind unter ca. 20 cm Neuschnee verborgen.
Zum Glück leiten uns zwei, drei Steinmännchen zu der Stelle wo wir die Westflanke verlassen und in die kaminartige Rinne der Nordseite einsteigen. Bei trockenen Verhältnissen ist das eine leichte Angelegenheit und für Geübte seilfrei in wenigen Minuten zu machen. Angesichts der winterlichen Verhältnisse entscheiden wir uns aber für die langsamere, aber sichere Variante und ich steige die Klettermeter vor …
… und sichere dann Christian und Gerhard einzeln nach
Die „Kletterstrecke“ beläuft sich auf nicht mehr als zwei (sehr kurze) Seillängen und bald erreichen wir den flachen Gipfelhang, der problemlos – wenn auch durch tiefen Schnee – zum Gipfelkreuz leitet.
“Allein“ auf dem Gipfel des Piz Buin ist ein seltenes Vergnügen. Allerdings müssen wir auf die Aussicht verzichten – Wolken haben mittlerweile alle umliegenden Gipfel umhüllt.
Bald erreichen wir wieder die Kletterstellen und ich sichere Christian und Gerhard runter um dann selbst abzuseilen.
Der Abstieg führt uns dann den gleichen Weg wieder zurück. Von der Buinlücke über das weite Firnbecken des Ochsentaler Gletscher …
… zwischen Felswand und Gletscherbruch …
… und dann immer schon in Sichtweite der Wiesbadener Hütte …
Nach ca. 9 Stunden sind wir wieder zurück auf der Hütte. Die angekündigte Wetterverschlechterung kann uns nun nach diesem herrlichen Tourentag nicht mehr schrecken …
[to be continued]