Es ist nach Mitte Oktober und im Flachland kehrt bereits langsam die trübe Stimmung des Spätherbstes ein.
Ich sitze allein in der Wohnung während draußen die Dunkelheit das letzte, spärliche Tageslicht verdrängt.
Ist es erst 2 Wochen her, dass wir bei kristallklarer Luft durch blau schimmernde Schneelandschaften wanderten - durch goldene Lärchenwälder streiften - die Wärmende Oktobersonne und die unvergleichliche Stille, wie sie nur im Herbst in den Bergen zu finden ist genießen konnten?
Doch diese Erinnerungen schwinden. Es gibt viel nachzudenken in diesen Tagen - zu viel.
Gleichgültig beobachte ich die Regentropfen, die an der Scheibe herunter rinnen und nur ein verschwommenes Bild dieses einsamen Abends preis geben -
als das Klingeln des Mobiltelephones mich aus meinen düsteren Gedanken reißt.
Es ist R. "Hi, nächstes Wochenende hab ich noch mal Zeit. Wenn das Wetter gut wird, könnten wir noch mal eine geile Tour machen - was hältst Du davon?"
Für ein Wochenende noch mal in die Berge…, ist das nicht etwas zu stressig?, denke ich.
Doch nach dem Telephonat kommen mir sofort verschiedene Touren in den Sinn, die bisher immer noch nicht realisierbar waren.
Aufgrund der Schneelage ist für uns Vieles nicht möglich, was eigentlich dringend gemacht werden müsste.
Aber Ende Oktober, mit Schnee in den hohen Nordhängen, wäre die Zeit für eine auch bei unter diesen Bedingungen problemlos machbare Pässewanderung, die mich seit Jahren fasziniert.
Es gibt keine Gipfel und keine spektakulären Wege. Aber ich vermute und erhoffe menschenleere Landschaften, phantastisches Licht, unendliche Weiten und einen Abschluss unter südlicher Sonne.
2 Tage sind genau der Zeitbedarf.
Die Tour mit allen Wegpunkten:
Tag 1:
Maloja im Engadin am Lej da Segl 1801m
Plan di Zoch 1945m - Lägh dal Lunghin 2484m
Pass Lunghin 2645- Pass da Sett / Alp da Sett 2310m – Leg da Sett
Forcellina 2672m – Mutt 2252m – Bleis – Plangga – Alpagada 2138m
Juf 2117m (2126m?)
Juppa ca.2000m.
Tag 2:
Juppa ca.2000m - Vorder Bergalga 1993m - Olta Stofel 2074m - Masügg - Uf da Büela
Bergalgapass 2790m - Val Da Roda - Lägh da Caldera 2751m
Pass da Roda (in der Landeskarte Namenlos) 2777m - Val da la Duana 2642m
Pass da la Duana 2694m - Cadrin 2135m - Löbbia 1966m - Brüscia - Plän Vest 1821m - Bosch Tens - Tombal 1545m
Soglio 1097m
Bereits kurz nach dem Gespräch verschwindet meine Skepsis und ich beschließe, diese Tour vorzuschlagen und die für ein Wochenende eigentlich viel zu lange An- und vor Allem Rückfahrt in Kauf zu nehmen - wenn nur das Wetter mitspielt...
Es sollte mitspielen.
Am Samstag, den 25.10.2008 standen wir dann, reichlich übermüdet von der Woche, der Fahrt und einer viel zu kurzen Nacht im Oberengadin - am Ufer des Silsersees.
An diesem Samstag Morgen liegt eine ganz besondere Stille über der Seenplatte. Kein Auto ist zu hören, kein Mensch ist zu sehen. Am kleinen Parkplatz direkt an der Kantonalstraße befindet sich kein Fahrzeug von Urlaubern.
Es ist die Stimmung der Nebensaison, wenn man sich nicht nur ferner von Allem fühlt, sondern auch das Privileg sein Eigen nennet, dies Alles für sich allein habn zu dürfen.
Noch ist die Sonne nicht aufgegangen und das Hochtal mit seiner schon fast kanadisch anmutenden Seenplatte überträgt auch heute Morgen seine Ruhe unweigerlich auf mich – dieses Mal soger ganz besonders intensiv.
Vom Ortseingang von Maloja aus beginnen wir den Aufstieg über fast vollkommen Baumfreie Hänge Richtung Lej Lunghin. Die Luft ist nicht ganz so trocken, wie die Wettervorhersage vermuten lies und bei Temperaturen um den Gefrierpunkt tut es gut zu sehen, wie die Morgensonne die Gipfel bereits erreicht hat.
Wir wandern bergan und erreichen bald die ersten Hänge in der Morgensonne. Außer uns ist kein Mensch heute hier.
Noch sind die Muskeln kalt. Langsam setze ich einen Schritt nach dem anderen, während der Geist wach wird. Jeder Atemzug kondensiert in der Morgenluft. Ich halte kurz inne – die Geräusch meiner Schritte verstummen. In der Stille ist man allein mit sich selbst. Jeder Herzschlag ist spürbar und jeder Atemzug hörbar.
Über welk werdenden Matten baut sich gegenüber das Schroffe Bergeller Granit auf. In Mitten dieser Szenerie die kühne Staumauer des Albignasees.
Wir steigen durch die weiche Landschaft unterhalb des Piz Lunghin auf.
Das Morgenlicht bringt die vertrockneten Gräser zum Leuchten und verwandelt die gegenüberliegenden Engadiner Berge zwischen Piz Corvatsch und Murettopass in wunderbare Silhouhetten.
Kurz vor dem Lej Lunghin legen wir in der fast winterlich wirkenden Sonne auf gletschergeschliffenen Felsen eine kurze Pause ein.
Hier gibt es die Möglichkeit, als Abstecher auf den äußerst lohnenden Piz Lunghin zu steigen. Wir waren jedoch bereits letztes Jahr bereits dort und auch der mittlerweile 3 Wochen alte Schnee, der mehrfach aufgefirnt und nun wieder übergefroren ist, lässt eine gewisse Rutschigkeit auf dem stellenweise durchaus steilen Gipfelanstieg vermuten, so dass wir durch die Mondlandschaft direkt zum 2645m hohen Pass Lunghin wandern.
An diesem Ort befindet sich eine 3-fache Wasscherscheide:
nach Norden: Gelgia/Juliawasser – Rhein – Nordsee/Atlantik
nach Süden: Maira/Mera – Comersee – Po – Adria/Mittelmeer
nach Osten: Inn – Donau – Schwarzes Meer
Es öffnet sich der Blick zum weiten Hochtal des Septimerpasses.
Von hier gelangen wir über die Westrampe des Pass Lunghin direkt herunter zum Scheitel des Pass da Sett.
Im Süden haben sich Wolken gebildet. Das Val Malenco scheint komplett zugezogen zu sein.
Überhaupt scheinen die Bergeller Berge und besonders die Torrone-Gruppe die feuchten Luftmassen aus dem Süden erstmalig sehr hoch ansteigen zu lassen.
Das Val Forno muss im Winter ein charakteristisches Schneeloch sein.
Sind die Berge doch nur um die 3300m hoch und bieten damit kaum eine Nährzone, bringen sie dennoch den versteckt liegenden und wenig bekannten Fornogletscher hervor, dessen Zunge ungefähr von den Dimensionen des Morteratschgletschers ist, der wiederrum aus der 4000m hohen Berninagruppe gespeist wird.
Der Septimer war einst ein bedeutender Alpenübergang der Römer. Auf der Westrampe nach Casaccia im Bergell kann man über den "Sentiero Storico" über Teile der alten Römerstraße mit ihrem Plattenbelag und den Randsteinen wandern.
Die Ostrampe nach Bivio besteht aus einer für den Individualverkehr gesperrten Schotterstraße.
Unser Ziel jedoch ist der Pass gegenüber - die Forcellina. Der Übergang in das Averstal.
Die weiten Landschaften zwischen Averstal und Engadin sind im Winter ein beliebtes Skitourenrevier.
Nach einigen hundert Metern Gegenanstieg ist die Forcellina erreicht.
Aufziehende Wolken, der Schnee und die Einsamkeit lassen eine kalte Stimmung aufkommen.
Wir sind bereits viele Stunden unterwegs, aber noch keinem Menschen begenet, haben lediglich in der Ferne einige Jäger und zwei Alpinwanderer gesehen.
Vom Talschluss her kommend, wird der Blick frei auf das Averstal mit seinen weichen, baumfreien Hängen.
In der Generichtung der Talschluss mit dem Piz Piot und seinem kleinen Piotgletscher.
Nach einer Traverse steigt man in den Talboden ab und erreicht in Juf, der letzten Siedlung wieder die Zivilisation.
Wobei Zivilisation hier eine andere Qualität hat, als in vielen anderen Tälern.
Das Hochtal, in dem auf mehrere Ortschaften verteilt, ca. 185 Menschen leben, pflegt einen zurückhaltenden, ursprünglichen Tourismus.
In Juf kann man verscheidene Tees kaufen. Es gibt aber keinen Laden und keinen Verkäufer, sondern die Tees stehen einfach zum mitnehmen auf einem Sims an einem Haus. Jeder kann etwas mitnehmen. Daneben steht ein Glas zum bezahlen. Man kann geben, was man für angemessen hält.
Aber auch vor diesem Ort machen typische Schweizer Gepflogenheiten zur Regelung des ruhenden Verkehrs nicht halt. Die vielleicht 8m breite und 5m lange Freifläche vor einem Haus ist mit reichlich Absperrmaterial abgegrenzt und vollkommen unverhältnismäßig mit Parkverbotsschidern deklariert. Ich betrachte diese Struktur und frage mich, wer hier denn eventuell verbotwidriger Weise parken können wollte. Die Frage bleibt mir unbeantwortet.
Von Juf gehen wir die Straße nach Juppa. Ein Wanderweg ist kaum erforderlich, da sowieso rein garnichts los ist.
An unserer Unterkunft angekommen öffnet sich der Blick in das im Abendglanz erstrahlende Bergalgatal - unser Weg für Morgen.
Hier am Taleingang befinden sich auch die 2 im Forum wohlbekannten Skilifte.
In der Pension befindet sich außer uns nur noch ein einziger, weiterer Gast.
So bleibt viel Zeit für Gespräche mit dem Wirt, der uns erzählt, dass hier in den 60er Jahren eine Skistation geplant war. Die Investoren stoppten die Planungen jedoch, als sie von der Windanfälligkeit des Hochtals erfuhren. Der Skilift Tscheischa ist ein Relikt dieser Pläne, denn sein Bau war bereits vertraglich festgelegt und musste erfolgen.
Die großen Erschließungen jedoch, fanden nie statt.
Früh legt sich die Dunkelheit über das Tal.
Bei einer Flasche Wein genießen wir das hervorragende Abendessen.
Die Lebensmittel stammen fast ausschließlich aus der Produktion der Bauern und Jäger des Hochtals.
Hier gibt es keine Massenabfertigung, hier wird kein Geld an irgenwelche Alpenvereine abgeführt.
Fast jeder Franken bleibt der Bevölkerung im Tal, in einem sympathischen Hochtal mit mehreren Ortschaften, das insgesamt halb so viele Einwohner zählt, wie manche Alpenvereins"hütten" an Übernachtungsplätzen haben. Es braucht keine diktierte Hüttenruhe. Irgendwie ist das hier alles viel mehr mein Stil.
Fortsezung folgt....