Champoluc Monte Rosa Ski - 31.12.2003
Der nächste Morgen gestaltete sich trüb und grau. Es hingen immer noch dichte Wolken an den Felswänden des Aostatals, in den Bergen musste es schon die ganze Nacht lang geschneit haben. Es war schon fast gegen Mittag als wir die enge kleine Passstraße zum Col de Joux hinauffuhren. Unseren Vormittag hatten wir damit verbracht, das halbe Dorf auf der Suche nach unserem Autoschlüssel abzuklappern. So hatten wir schließlich den Polizeichef ("hm, ist es einer von denen hier?" - am liebsten hätte ich gesagt: " ja, die beiden Audischlüssel und der BMW"
), den Pfarrer und einen Typen, der einen Opel Astra in wenigen Minuten knackt, kennengelernt. Schlussendlich war der Schlüssel natürlich doch im Zimmer. Das hatten wir zwar mehrfach durchsucht, aber dass der Schlüssel, der mit Anhängetasche ziemlich groß ist, genau unter meinen Kulturbeutel passt, konnte ja niemand ahnen.
Der fortgeschrittene Tag hatte mich dazu veranlasst, ein Schigebiet auszusuchen, dass möglichst schnell zu erreichen war. Da Cervinia mit seinen hochgelegenen Hängen Idealwetter erfordert, waren wir nun auf dem Weg nach Champoluc im Ayastal. Das Ayastal ist das westlichste der drei Täler des Monte Rosa Schizirkus. Von St. Vincent kann man direkt über den Col de Joux ins Ayastal fahren und sich so die steile Schlucht am Taleingang sparen. Die Aostaseitige Rampe des Passes eröffnet einem immer wieder schöne Blicke in beide Richtungen des Aostatals.
Blick ins Aostatal in Richtung Poebene. Vermutlich ist ein derart eingeschneites Aostatal heute auch nicht mehr gerade die Regel.
An den Passhöhe befindet sich sogar ein kleines Schigebiet. Ein kurzer Sessellift und einige Waldschneisen - das wars. Es wundert mich etwas, wie sich das Gebiet bei der Konkurenz und der langen Anfahrtszeit halten kann. Tatsächlich ist es jedoch kürzlich sogar modernisiert worden. Es scheint sich also zu rechnen. Die Südseite des Passes bringt einen durch waldiges Gebiet zügig hinab nach Brusson, das vor allem als Langlaufdorado bekannt ist.
Das Ayastal selbst ist eines der außergewöhnlichsten Alpentäler, das ich je gesehen habe. Ich habe kurz überlegt, ob ich sagen kann, es sei das schönste aller Alpentäler, die ich kenne. Jedoch ist Schönheit so vielfältig, dass ich davon Abstand nahm, mich auf einen Ort als den schönsten festzulegen. Dennoch wäre das Ayastal ein guter Kandidat für diesen Titel. Das besondere an dem Tal ist die Verbindung aus den hohen felsigen Drei- und Viertausendern mit ihren Zinnen und Gletschern einerseits und dem weiten offenen Talgrund, der stets den Blick gewährt auf diese einzigartige Kulisse andererseits. Die meisten Täler, die eine solche Kulisse zu bieten haben, sind steil und eng - so auch die beidern anderen Täler des Monterosa Skigebiets - Gressoney und Alagna - und ebenso das parallele Val Tournenche mit dem berühmten Nachbarn Breuil-Cervinia. Darüber hinaus ist das Ayastal geradezu faszinierend unberüht. Trotz des enormen Schigebiets läuft der Tourismus in sehr gesunden Bahnen ab. Hier wurde die traditionelle Architektur noch nicht durch einen aufgesetzten touristischen Baustil verdrängt, hier wurde noch niht jeder lawinensichere Quadratmeter dem Bau neuer Hotel gewidmet. Im Gegenteil: die Unterkünfte sind klein und behaglich, hübsch anzusehen und verteilen sich auf einige wenige kleine Siedlungen. Die Orte bestehen oft nur aus wenigen Häusern, insbesondere Ayas mit seinen hübsch am Hang gestaffelten Weilern, die jeder für sich eine grandiose Aussicht bieten, ist weit davon entfernt, eine Skiburg mit Massentourimus zu sein. Es duftet nach Holz und dem Rauch der eisernen Öfen, das Leben hier geht beschaulich zu. Vor allem im hinteren Teil des Tales findet man mit. St. Jaques ein richtiges authentisches Bergdorf.
Der einzige Ort, der etwas aus dem Rahmen fällt, ist Champoluc selbst. Hier gibt es eine vernünftige touristische Infrastruktur und auch mehrere größere Hotels. Diese sind aber alles andere als überdimensioniert und folgen einem klassischen italienischen Baustil, so dass sie keinesfalls deplaziert wirken. Insgesamt erstaunt vor allem, wie unglaublich dünn das Tal besiedelt ist. Außer ein paar Dörfern an der einzigen Straße im Tal und dem oberhalb gelegenen Ayas, gibt es keine Siedlungen. Insbesondere diesem Umstand verdankt das Ayastal wohl sein Flair der Ursprünglichkeit. Eine Dokumentation in Bildern folgt im nächsten Bericht über Gressoney.
Einzig Champoluc ist von touristischer Architektur geprägt. Diese kommt aber dennoch ohne Hotelburgen aus und gliedert sich gut in den Ort ein.
Bei dem dichten Schneetreiben an diesem Tag, blieb mir all dies vorerst verborgen. Wir kamen kurz nach mittag in einem tiefverschneiten und höchst winterlichen Champoluc an und beschlossen erstmal in einer Bar etwas zu essen, um ein bisschen bessere Sicht abzuwarten und die Schikarte zu studieren. Das Schigebiet im Ayastal teilt sich in zwei Areale: das Gebiet von Champoluc und das Gebiet von Frachey / St. Jaques im Talschluss. Das Schigebiet von Champoluc ist in drei Sektionen erschlossen: Die Kabinenbahn hinauf nach Crest, die parallelen Sesselbahnen noch Ostafa und der höchtste Sessellift Sarezza.
Wenig später fuhren wir mit der Kabinenbahn die 500m hinauf nach Crest, einer Ansammlung mehrerer hübscher Weiler und Almhütten, die nicht per Straße zu erreichen sind und auf etwa 2050m liegen. Ich hatte im Vorfeld versucht, hier eine Unterkunft zu finden, leider jedoch waren die wenigen Herbergen bereits ausgebucht. In jedem Fall ist es hübscher Ort, um dort zu wohnen.
Die Tür zum Schuppen hinter dem Haus will erstmal freigelegt sein.
Während wir von Crest aus weiter nach Ostafa hinauffuhren gab der weichenden Nebel das erstemal stückweise den Blick auf die umliegenden Berge frei. In diesem Augenblick habe ich mich in dieses Tal verliebt. Es musste meterweise Neuschnee gefallen sein. Der tiefverschneite Winterwald, die Weite und Größe der wuchtigen Pyramiden aus Fels und Eis von Testa Grigia, Monte Pinter und Corno Bussola, die Unberührtheit dieses Hochtales: dies alles machte mir bewusst, wie sehr mir diese unberührte Weite mitunter sonst gefehlt hatte. Hatte ich früher jede neue Piste begrüßt, jeden neuen Lift als Fortschritt betrachtet, so war ich in den letzten Jahren durch die Beobahctung der Entwicklung in Val Thorens schon nachdenklicher geworden. An diesem Tag bin ich das erste mal vom Gegenteil überzeugt worden. Hier tasteten sich nur drei Lifte immer höher in die eisigen Regionen der Dreitausender hinauf und dennoch und gerade deshalb erschlossen sie Pisten von einzigartiger Schönheit. In Anbetracht dieser gewaltigen Kulisse und der Weite der Landschaft wirkten die drei Lifte klein und unbedeutend. Man spürt den Berg, man fühlt ihn durch und durch. Er überragt einen, er überschattet einen, und wenn das Licht der Sonne durchbricht, dann wird alles überwältigend schön. Mir ist erst wieder bei dieser Landschaft bewusst geworden, wieviel schöner für mich das Schifahren ist, wenn einem die weiten und unangetasteten Landschaften das Gefühl des absolut hochalpinen zurückgeben, was einem im perfekt und lückenlos erschlossenen Schigebiet fehlt. Dieses Erlebnis hat meine Einstellung zum Schigebietsausbau nachhaltig beeinflusst. Wären die Hänge hier voll mit Liften und Pisten gewesen, hätte das an der Qualität der Pisten sicher wenig geändert. Das Gefühl aber, sich in die höchsten Regionen des eisigen Hochgebirges vorzutasten und das Erlebnis, dennoch in dieser einzigartigen Hochgebirgslandschaft hinabzugleiten wäre ein anderes gewesen. Die hochalpine Landschaft wirkt unberrührt und makellos doch um einiges gigantischer.
Ostafa an sich ist schon ein zeimlich exponiertes kleines Felsplateau. Der dritte und höchste Lift aber, der Sarezza Sesselift, gibt einem geradezu das Gefühl, direkt in den Himmerl zu gleiten, ähnlich wie der Traverséelift auf den Bellecôte in La Plagne. Auch dies sei ein Beispiel dafür, wie einem eine spektakuläre Liftauffahrt gleich nochmal so viel Lust auf die bevorstehende Abfahrt machen kann, wenn man schon bei der Auffahrt dem Höhenrausch erliegt, mit einem Gefühl, das eher dem Gefühl des Fliegens als der Fahrens gleicht.
Sarezzalift.
Sarezzaabfahrt - ebnfals sehr exponiert mit tollem Blick ins 1500m tiefer gelegene Tal!
Off-piste Variante am Sarezzalift.
Dieser spektakuläre obere Abschnitt des des Sarezzaliftes hat uns so beeindruckt, das wir die Abfahrt gleich dreimal wiederholten. Als wir uns dann aufmachten, die Rückseite zu erkunden, wo man ins hintere Schigebiet von St. Jaques und Frachey wechselt, wartete gleich die nächste Überraschung. Es führt von der Rückseite her kein Lift hinauf. Stattdessen wartet eine tolle, technisch sehr abwechslungsreiche und lange Piste, die über 600 Höhenmeter abseits aller skitouristischer Infrastruktur duech ein herrliches Hochtal und sehr skifahrerisch vielseitiges Gelände führt. Ein grandioses Erlebnis!
Rechts oben aus den Wolken stößt die Piste auf der Rückseite des Sarezzalifte hinab, deren Bogen in der Mitte des Bildes zu erkennen ist. Im Hintergrund die hohen Flanken des Rothorns. Eine frühe Besiedlung der Täler südlich des Monte Rosa durch die Walser brachte viele deutschstämmige Wörter in die Region.
Beeindruckende Felsformationen auf der Rückseite des Sarezzaliftes.
Lifttechnische Besonderheit: Zwei Bergstationen, eine Mittelstation im Tal. Dieser Lift bringt einen in Blickrichtung der oberen Bilder zurück ins Gebiet von Champoluc, in dieser Richtung stellt er die Anbindung an das Gebiet von Frachey her.
Am Ende dieser berauschenden Abfahrt entschieden wir uns noch einen kurzen Blick ins Gebiet von Frachey zu werfen. Dieses wird von unten her mit einem fixgeklemmnten Leitner Sessellift erschlossen, an den sich dann ein komfortabler kuppelbarer 4er Sessellift namens Mandria anschließt, der ein halbes Dutzend leichter, aber schöner Waldabfahrten zwischen 1950m und 2400m erschließt. Im höchsten Sektor folgt dann ein weiterer kuppelbarer 4er Sesselift - Bettaforca - , der die Skifahrer von 2300m auf den 2700m hohen Bettaforcapass bringt, von dem aus man nach Gressoney abfahren kann. Dazu kommen dann noch die Pisten des Verbindungsliftes nach Champoluc, der übrigens den leicht zu merkenden namen Lago Ciarcerio - Contenery - Alpe Belvedere trägt. Weiterhin besticht das Gebiet durch viele, ausgesprochen heimelige und gastliche Hütten, die preisgünstig und gut sind, und ohne nüchternes SB-Restaurant mit lautstarkem Tiroler-Techno auskommen. Eine angenehme Abwechlsung. Der fortschreitenden Tag führte dazu, dass wir nur einmal kurz zum Mandrialift abfuhren, um von dessen Bergstation zurück zur Mittelstation des Verbindungsliftes zu fahren.
Eine der Mandriapisten.
Mandrialift.
Blick hinüber zum Matterhorn, Dent d'Herens und ins Schigebiet von Breuil und Val Tournenche. Vom Colle di Cime Bianche inferiore, dem Übergang zwischen Val Tournenche und Breuil, müsste man direkt nach St. Jaques im Ayastal abfahren können.
Rückfahrt mit der anderen Hälfte der Verbindungsliftes nach Champoluc.
Auf der Abfahrt zurück nach Crest brach schließlich die Sonne noch einmal endgültig durch die Wolken und bescherte eine absolut traumhafte Winterstimmung wie sie nur der Hochwinter bringen kann. Die Weite und Leere des Hochgebirges taten ein Übriges zu dieser atemberaubenden Atmosphäre. Mögen die Bilder ihren Teil dazubeitragen, die außergewöhnliche Stimmung, hervorgerufen durch die Lichtspiele jenes Abends, noch einmal aufleben zu lassen.
Am Ende des Verbindungsliftes auf dem Rückweg nach Champoluc. Blick ins hintere Ayastal, mit seiner ganzen Weite und Einsamkeit. Ganz hinten Matterhorn und links davon Dent d'Herens. Davor etwa in der Mitte die Gran Sometta, wo man von Val Tournenche ins Schigebiet von Breuil Cervinia wechselt. Am Bildrand die Flanke des Gobba di Rollin, des höchsten Punktes des Schigebietes von Zermatt.
Abfahrt zurück nach Crest. Im Hintergrund die weiten Almwiesen von Ayas.
Eine letzte Auffaht mit dem Ostafalift in das wunderschöne Hochtal am Testa Grigia.
Sarezzalift vor Testa Grigia. .
Oben am Sarezzalift.
Ostafabergstation.
Matterhorn und Dent d'Herens. In der Mitte mit der erleuchteten Flanke die Gran Sometta. In der Senke links unterhalb quert ein Schlepplift den Colle Cime Bianchi inferiore und verbindet Val Tournenche mit Cervinia.
Diese Eindrücke einer hochalpinen Märchenlandschaft und Winteridylle sind es, die mich immer wieder reizen im Dezember und Januar skizufahren. Derartige Impressionen habe ich so im Februar und März noch nicht erlebt. Noch berauscht von dieser wunderbaren letzten Abfahrt kehrten wir abschließend im Belvedere in Crest ein, wo zu meinem Erstaunen schöne alte Songs von Led Zeppelin, Pink Floyd etc liefen. Da wir die letzen Gäste waren, kamen wir schnell mit dem Wirt ins Gespräch, der nicht nur sehr nett ist, sondern uns auch erzählte, dass er gerade versucht, wieder eine Konzession zum Betrieb des Hotels zu bekommen. Sollte er das schaffen, wäre das Hotel Belvedere eine sehr zu empfehlende Unterkunft. Aber auch so hat es sich gelohnt dort einzukehren: wir haben uns nicht nur sehr nett unterhalten und tolle Musik gehört, sondern wurden am Ende auch noch eingeladen! Im letzten Schimmer des Tageslichts fuhren wir die hübsche Waldabfahrt zurück nach Champoluc hinab. Selten ist ein Jahr so schön ausgeklungen wie dieses...
Die heimeligen und idyllischen Weiler von Crest.