Wir verlassen an dieser Stelle den chronologischen Pfad, stellen die nächsten beiden Tage der Tour zunächst zurück und fahren fort mit: Alpe d'Huez, 18.2.2008: Die Sonneninsel oder Ein Klassiker im SchnelldurchlaufOrt auf der Karte anzeigenÜber beeindruckende 21 Kehren und 1100 Höhenmeter windet sich die D 211 bei Bourg d'Oisans aus dem Tal der Romanche hinauf auf eine Hochalm unterhalb des mächtigen, nahezu 3500 m hohen Massivs der Grandes Rousses. 37 Minuten und 35 Sekunden beträgt der Rekord für die 13 Kilometer lange Strecke - auf dem Rennrad wohlgemerkt, aufgestellt von "il pirata" Marco Pantani 1997, wahrscheinlich unter dem Einfluss von allerhand Dopingsubstanzen. Schon 1952 endet hier oben erstmals eine Etappe der Tour de France, Sieger ist seinerzeit Fausto Coppi, wie Pantani ebenfalls Italiener. Ab 1976 folgen 24 weitere, teils legendäre Bergankünfte, die dafür sorgen, dass die Alpe heute im Radsport fast bekannter ist als im Wintersport.
Letzterer beginnt im Jahr 1923 mit dem Bau einer ersten Almhütte. 1934 folgen die ersten Hotels, 1936 gar der erste moderne Skilift Frankreichs durch Jean Pomagalski - kuppelbar, versteht sich! Nach 1945 wächst die Siedlung rasch zu einem eigenständigen Ort heran: Post, Gendarmerie und Rathaus werden gebaut. Im Jahr 1958 erfolgt die Gründung der Seilbahngesellschaft SATA, die 1962 den Pic du Lac Blanc (heute kurz: Pic Blanc), 3330 m, als einen der höchsten Gipfel der näheren Umgebung mit einer Seilbahn erschließt. Die Alpe besitzt von dort an auch ein Sommerschigebiet am Glacier de Sarenne. Zwei Jahre später wird der Skitunnel vom Gletscherplateau in die Westflanke des Gipfels eröffnet, der zu dieser Zeit bis in den Sommer hinein eine Skiabfahrt vom Gipfel des Pic Blanc ermöglicht. Während der Olympischen Spiele 1968 in Grenoble ist Alpe d'Huez Austragungsort der Bobwettbewerbe. Fazit von Walter Pause (geb. 1907) zu dieser Zeit (1969): "Nicht reizvoll ist, dass man im Night-Club für ein Cola mit Zitrone 14 französische Francs bezahlt. Vielleicht nicht überall - überall wagten wir uns nicht mehr hinein". Die Alpe ist offenbar angesagt zu dieser Zeit.
1976 wird die Sarenne-Abfahrt vom Pic Blanc eröffnet, die heute als angeblich längste Piste der Welt mit 16 km beworben wird. Tatsächslich dürfte sie, wie auch Marius in seiner an Ausführlichkeit kaum zu überbietenden
Abhandlung im Alpinforum 2006 schrieb, wohl etwas kürzer sein.
Nach Chasserals arbeitsbedingter Abreise am Vortag verbleiben wir für die letzten Tage zu zweit - was zumindest in meinem Fall so nicht geplant war, denn eigentlich hätte Trinc mit Gerrit weiterziehen sollen, während ich mit Chasseral die Rückreise antreten wollte. Die Entscheidung für Alpe d'Huez fällt eher spontan, wir nehmen es mit weil wir gerade da sind. Und natürlich auch, weil es mich als bekennenden Fan französischer Skigebiete schon länger interessiert.
Während wir in Gerrits Wagen die berühmte Straße hinaufgleiten, ziehen vor meinem inneren Auge noch einmal die zahllosen Fernsehbilder vorbei, die in den zwölf Sommern seit 1996 von dieser Strecke zu sehen waren. Bilder von bis zur Erschöpfung kämpfenden Radfahrern, scheinbar mühelos kurbelnden Lance Armstrongs, schwer und gleichmäßig stampfenden Jan Ullrichs, die sich durch Massen von Zuschauern bergwärts pflügen. Bis zu einer Million Menschen sollen es beim Bergzeitfahren 2004 gewesen sein! Auch der Italiener Guerini kommt mir vor Augen, der 1999 alleine in Führung liegend mit einem fotografierenden Zuschauer zusammenstieß und dennoch die Etappe gewinnen konnte. Und ich erinnere mich an einen eindrucksvollen
Artikel in der ZEIT, in dem der Autor beschrieb, wie er im Selbstversuch diesen legendären Berg hinauf fuhr.
Von all dem ist an diesem Wintertag jedoch nichts zu sehen. Die Schriftzüge mit den Namen der Radfahrer auf dem Straßenbelag haben die wenigen Monate nicht überdauert, sind vielleicht auch entfernt worden. Kein Mensch ist auf der Straße, auch kaum ein Auto, trotz bestem Wetter mitten in den französischen Winterferien. Weil auch der Schnee fehlt, wirkt alles ein bisschen trostlos. Nur die kleinen Schilder in den Kehren, die die Namen der Etappensieger tragen, erinnern an das sommerliche Spektakel und sorgen dafür, dass es doch irgendwie die ganze Zeit präsent ist.
Kehre 3 - die Zählung beginnt von obenWir passieren das Örtchen Huez, dem die Alpe ihren Namen verdankt, und erreichen bald darauf die sonnenbeschienene Skistation, die dem Slogan der Marketing-Strategen ("L'Île au soleil", dt. in etwa "Sonneninsel") alle Ehre macht an diesem Tag. Höchste Zeit, die Gedanken in Richtung Ski fahren zu lenken.
Im Gegensatz zu den benachbarten Deux Alpes verfügt Alpe d'Huez über ausreichende Parkmöglichkeiten direkt in Liftnähe. Die Skipässe sind schnell besorgt, so dass wir uns bald in die Schlange an der 6-EUB Marmottes I einreihen können. Wir ersparen uns die grün markierten Anfängerpisten um die Station herum und starten eine Runde, die uns der Reihe nach ins noch schattige Villard Reculas, nach Oz-en-Oisans und mit der zweiten Sektion der 160er-Pendelbahn Typ "Caron" zum Dôme des Petites Rousses führt. Die Pisten sind großteils hart gefroren und manchmal auch eisig-abgefahren. Die Schneemenge ist zwar ausreichend, an der Pistenqualität merkt man aber deutlich, dass es seit Wochen nicht mehr geschneit hat. Wir grasen die unteren Regionen des Skigebiets eher pflichtbewusst ab, um sie gesehen zu haben. Die schattige Abfahrt nach Vaujany auf 1200 m ersparen wir uns. Statt dessen zieht es uns in die Höhe, zum alles überragenden Gipfel des Pic du Lac Blanc.
Blick auf die Alpe in der MorgensonneAm Signal laufen die Lifte parallel. Links im Anschnitt das Stade de Slalom.Flaches Almgelände rund um die Alpe. Erst darüber wird das Gelände interessanter.Nach Villard Reculas führt eine breite und an diesem Tag eher hart gefrorene AutobahnWieder zurück am Signal, richtet sich der Blick auf die......Gipfelregionen, die am Morgen noch weitgehend im Schatten liegen......und natürlich auf die Alpe selbst. Dahinter erhebt sich in der Ferne......das Gletscherplateau von Les Deux Alpes.Weiter geht es mit dem DMC, das aber offenbar technische Probleme hat und dauernd stehen bleibt. Deshalb steigen wir an der Mittelstation lieber aus und orientieren uns in Richtung Oz-en-Oisans.
Die "Sonneninsel". Hier hat das Marketing mal nicht übertrieben.Eine der beiden Télécabines von Oz, die den Ort in Richtung Alpe und Alpette an das Skigebiet anbinden.Front Neige von Oz-en-OisansDie Abfahrt nach Vaujany liegt noch weitgehend im Schatten. So geht es......mit dem Sessellift zurück in Richtung Alpette.Unterwegs der Blick hinauf zur Bergstation Dôme des Petites Rousses, die frappierend an einen anderen, wohlbekannten französischen Skiberg erinnert.Kein Wunder: Es ist der gleiche Hersteller (Poma mit Habegger-Technik) und die Bahn entstand nur wenige Jahre nach ihrem bekannten Vorbild in Val Thorens. Dieses Exemplar ist nicht minder beeindruckend.Auch die Seilbahn zum Pic Blanc ist ein Unikum aus der Planung von Denis Creissels, Baujahr 1962, stützenlos mit nur einem Tragseil aber zwei Zugseilen. Von oben reicht der Blick über die Vorberge hinaus ins Flachland, nach Norden in Richtung Mont Blanc, Tarentaise und Maurienne, nach Osten zu Monte Viso, Meije und Écrins, zu den Gletschern von La Grave, nach Les Deux Alpes und darüber hinaus weit nach Süden in die von Nebel bedeckte Provence. Wir halten uns zunächst jedoch nicht lange auf, sondern starten unmittelbar über die enge, teils steinige Abfahrt vom Gipfelaufbau über eine schwarze Piste mit hüfthohen Buckeln zur Einfahrt des berühmten Skitunnels vom Sarenne-Gletscher in die Westflanke.
Gipfelstation Pic BlancEinstieg in die Tunnelpiste in der WestflankeDer Einstieg am Ende der breiten, perfekt ausgeleuchteten Tunnelröhre sei entschärft worden, war in der Vergangenheit an der einen oder anderen Stelle zu lesen. Ein blauer Ziehweg sei von den Betreibern quer in den Hang gefräst worden, schrieb
pistehors.com im August 2004. Und tatsächlich: Nach langer Suche habe ich ein Bild dieser
Schandtat in den Tiefen des Internets finden können. Denn man ist offenbar von dieser Sache wieder abgerückt! Heute ist von dem Weg nichts mehr zu sehen, nur die erste Querpassage direkt nach dem Tunnelausgang ist geblieben. Sie wird auch ab und an mit einer Schneefräse instand gehalten, und natürlich gibt es einen Sicherheitszaun. Dennoch, die Querung ist auch schon auf den Bildern in den Büchern von Walter Pause zu sehen, so dass man wohl sagen kann, es ist wieder alles im Originalzustand - zumindest soweit es der Gletscherschwund zulässt, der auch hier für Probleme und einen zunehmend steiler werdenden Hang sorgt. Man hat dennoch eine Lücke im Zaun gelassen, um auch den direkten Einstieg zu ermöglichen. Sehr löblich!
Abgesehen von den ersten, sehr stark und sehr unregelmäßig ausgefahrenen Metern zu Beginn ist der oberste Steilhang ein Hochgenuss. Sauber ausgefahrene, griffige Buckel fordern zwar Ausdauer, machen aber wesentlich mehr Spass als die harten, abgefahrenen Kunstschneepisten am Morgen. In der Folge wechseln sich kurze Flachpassagen mit buckeligen Rampen ab. Die gesamte Abfahrt ist weitgehend unpräpariert. Sie bleibt dadurch auch heute noch ein Highlight.
Endstation Lac Blanc mit Blick zur Marmottes-LiftketteZur Entspannung stellen wir uns nach einer kurzen Fahrt mit der Zubringer-Sesselbahn Lac Blanc gleich noch einmal in die Schlange der Gipfelbahn. Oben angekommen, bleibt diesmal viel Zeit für das außergewöhnliche Panorama. Die Kette der Grandes Rousses, deren südlichster Gipfel der Pic Blanc ist, überragt gen Westen alle anderen Berge. So reicht der Blick einerseits ins nebelbedeckte Flachland, ähnlich wie am Bellecôte-Gletscher in La Plagne oder vermutlich auch am Ex-3300 in Val Thorens. Im Gegensatz zu den beiden letztgenannten steht aber in die anderen Richtungen kein höheres Bergmassiv mehr im Weg, das die Aussicht entscheidend verdecken könnte. So reicht der Blick nach Süden gen Provence, nach Norden zum Mont Blanc und in die Vanoise, nach Osten zu den Aiguilles d'Arves, zum Monte Viso und ins Écrins-Massiv. Direkt gegenüber die Nachbarstation Les Deux Alpes, und ein hervorragender Blick ins Skigelände von La Grave. Und so ist der Pic Blanc, obwohl er uns tags zuvor von Les Deux Alpes aus kaum ins Auge fiel, dennoch ein überaus lohnender Aussichtsberg.
Gipfelblick nach Südwesten bis weit ins nebelbedeckte FlachlandLes Deux AlpesGletscherplateau zwischen Les Deux Alpes und La GraveLa Grave, Col des Ruillans. Dahinter lugt die Barre des Ecrins hervor.Die Alpe.Weltraum-Feeling beim Blick nach WestenGrande Casse et al.Aiguille Péclet und Chavière-Gletscher linksSüdblick über das ehemalige Sommerskigebiet nach Les Deux AlpesDiesmal nehmen wir vom Gipfel aus die Sarenne-Abfahrt. Hier muss leider jeder hinunter, der sich nicht durch den Tunnel traut, und das merkt man an diesem Tag. Dazu ist die Abfahrt immer mal wieder mit einigen kleinen Steinchen gespickt - nicht unbedingt die beste Piste an diesem Tag. Das Pendelfunitel, das man vor ein paar Jahren als zweiten Zubringer zum Sarenne-Gletscher gebaut hat, hätte man sich angesichts der Pistenkapazität so gesehen sparen können. An windigen Tagen, wenn die Pendelbahn nicht läuft, mag das aber anders sein.
Wir rasten schließlich weit nach Mittag an einem Kiosk in den Gorges de Sarenne und gönnen uns einen verspäteten Imbiss. Anschließend bleibt noch etwas Zeit, um den Sektor von Auris zu erkunden.
Am Beginn der Sarenne-Abfahrt. Hier kann man auf den Resten des Gletschers noch schön ins Gelände ausweichen, wenn man möchte.Blick zurück zum GipfelDann startet der interessanteste Teil der Abfahrt.Am Nachmittag auf dem Weg in Richtung Auris. Schöne Nordhänge mit netten Buckelpisten.Alpe d'Huez auf der anderen Seite der Sarenne-SchluchtDie Sonneninsel. Immer noch.Nachmittäglicher Blick über das RomanchetalLes Deux Alpes ständig im BlickCol des Ruillans, Meije (links) und Râteau. Ja, das Gelände von La Grave ist hochalpin.Sommerschigebiet am GegenhangGerrit
In der 4KSB nach AurisOberhalb Auris ist es eher einsam. Hier dürfte man, wenn man Zeit hat, noch einige schöne abgelegene Pisten finden.Zurück aus der Sarenne-Schlucht kommt man unter anderem mit dieser schönen, alten DSB. Leider ist sie dem Ansturm von der Sarenne-Abfahrt nicht ganz gewachsen.Blick von oben hinüber in den Sektor von AurisAbendstimmung über der Alpe. "Sonneninsel", immer noch.Der Ausklang eines tollen Skitages. Merke: Wenn man in Frankreich ein großes Bier bestellt, bekommt man auch ein großes Bier. Auch noch 15 Minuten bevor der Laden dicht macht.
Über leere Pisten cruisen wir nach Liftschluss zurück ins Dorf.
Ein letzter Blick ins Skigebiet, das nun nahezu vollständig in der Abendsonne liegt - selbst im Februar.
In abenteuerlichen Korbliftkonstruktionen schweben die Menschen zurück zu ihrem Quartier...
...während wir uns bereits im Auto sitzend ins schattige Tal bewegen und noch einmal zwischen den Häusern einen Blick auf die "letzte südliche Bastion der Alpen" (W. Pause) erhaschen.
Dieser Tag auf der Alpe hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Auch jetzt, während ich diese letzten Zeilen des Berichts ergänze, zwei Jahre nach dem Besuch, ist dieser Eindruck noch immer lebendig - ein Grund, warum es mir ein großes Anliegen war, diesen Bericht auch nach so langer Zeit doch noch herauszubringen. Dabei ist es weniger der skifahrerische Teil, der dazu beigetragen hat - auch wenn die berühmte Tunnelpiste auch heute noch ein Highlight ist. Doch boten die, nach vielen Wochen ohne Neuschnee, stark abgefahrenen Kunstschneepisten zwischen Villard Reculas und Montfrais nicht unbedingt den allerhöchsten Spassfaktor. Zudem waren wir mitten in den französischen Winterferien, also der absoluten Höchstsaison unterwegs, was sich an der einen oder anderen Stelle doch bemerkbar zu machen schien.
Lage und Exposition dieses Ortes sorgten in Kombination mit dem Wetter aber für eine unglaubliche Atmosphäre, die alle diese vermeintlichen kleinen Schwächen in den Hintergrund treten ließ. Panorama und Fernsicht, Wetter und Licht - die Bilder vermögen wahrscheinlich nur einen kleinen Teil davon wiederzugeben.
Im Endeffekt haben wir nur einen Teil des Skigebiets wirklich gesehen und dabei den Kernbereich zwischen Lac Blanc, Clocher de Macle, Mine de l'Herpie und Plat des Marmottes komplett auslassen müssen, obwohl sich dort laut Pistenplan einige potenziell interessante, schwarze Abfahrten befinden. Dies ist - neben der Atmosphäre - der Hauptgrund, warum ich in absehbarer Zeit dorthin zurückkommen möchte. Denn unter Berücksichtigung der dortigen Möglichkeiten könnte eine Woche auf der Alpe - bei guten Schneeverhältnissen und ebensolchem Wetter - dem Ideal des ambitionierten Pistenskifahrers sehr, sehr nahe kommen. Trotz Beschneiung und Planierung - Plastiklifte gibt es kaum. Und für größere Ansprüche ist La Grave nicht weit.