Ein eisiger Hauch empfängt mich als ich das Hotel verlasse. Hatte gestern in den warmen Weinbergen zwischen Kaltern und Bozen der Sommer noch freundlich gegrüßt und schienen Bozen und das gesamte Etschtal vom nahen Herbst noch unberührt, so lässt dieser klare kalte Morgen keinen Zweifel über die Vergänglichkeit dieser Idylle bestehen. Ein Starkwindband windet sich breit am Himmel, die Luft ist klar, das Licht kalt, hart, geradezu übermäßig präzise. Nach nun mehr einer guten Woche mit dem Fahrrad in den Alpen und einem Ausflug mit Kris nach Alagna, bin ich gestern am frühen Abend des 21. September 2004 im oberen Armentarolatal angekommen, wo meine Eltern traditionell ihren Herbsturlaub zum Wandern verbringen.
Während der morgendlichen Auffahrt zum Val-Parola- und Falzaregopass grüße ich aus dem Fenster blickend in Gedanken die Felswände der Dolomiten, die mir schweigend gegenüber stehen: Cunturines und Kreuzkofel, Sella und Puez. Einst waren sie die mir am vertrautesten Berge, doch dieses ist es schon etwas her, dass ich ihnen gegenüberstand. Mit den Jahren wuchs auch meine Neugier nach den anderen Regionen der Alpen, vor allem den wilden und wenig erschlossenen Westalpen. Heute begegne ich der doch sehr touristischen Idylle der Dolomiten mit gemischten Gefühlen, dennoch: diese Berge sind und bleiben beeindruckend schön! Ihre mächtigen Mauern, Zinnen und Türme suchen ihresgleichen - auch in den Westalpen.
Das obere Cadore mit dem weiten Talkessel Cortinas, mag ich noch lieber als das Armentarolatal. Seine Vielfalt ist bemerkenswert. Das weite nach Süden offene Halbrund, das von seinen idyllischen Almwiesen und seichten Lärchenwäldern einerseits und den Bollwerken Tofana, Sorapis, Lagazuoi und Cristallo anderseits geprägt wird, birgt mit Cortina die Perle der Dolomitenorte. Südlich mahnt schweigend einer meiner liebsten Gipfel: der Antelao. Dieser dezent anmutende Dolomitenberg ist nicht nur der zweithöchste Gipfel des Massivs, sondern hat auch irgendwie etwas unnahbares: wo immer man sich befindet, dieser Berg steht immer etwas abseits, ragt aber dennoch in majestetischer Würde einsam in die Weiten des Himmels. Ein interessanter Kontrast wie ich finde.
Die Fahrt führt uns über Falzarego und Val Parola Pass nach Cortina und von dort hinauf zum Tre Croci Pass.
Unterwegs grüßt die Königin der Dolomiten. Wieso man die Piste trotz Umbau der Bahn, also trotz Mangels an Sommerschibetrieb erkennt ist mir ein Rätsel.
Die alte Schautafel steht noch an der Talstation der KSB zum Cristallo.
An der Passhöhe des Tre Croci Passes, einer unscheinbaren Passhöhe von 1800m Höhe, die östlich von Cortina zwischen Cristallo und Sorapis liegt, steht ein einsames Hotel. Von dessen Schlepplift sehe ich nichts. Das Hotel selbst befindet sich im Umbau. Da die Talstationen der Bahnen Richtung Tondi-Faloria bzw. Cristallo einen Kilometer entfernt knapp 100m tiefer liegen, ist die Lage des Hotels etwas ungünstig. Wer weiß jedoch wie es früher war. Wenn man bedenkt, dass man wohl einst von Cortina per Liftkette über den Mietres bis zu den Cristallobahnen kam, so mag es durch aus möglich gewesen sein, dass auch das Hotel mit seinem Lift früher Teil des Gebietes war.
An der Passhöhe ist es erstaunlich warm, die Sonne steht aber mittlerweile auch etwas höher. Dennoch spricht das Starkwindband, dass sich selten-deutlich über den südlichen Himmel zieht, eine klare Sprache. Der Cristallo wird sein Geheimnis nur für einen hohen Preis enthüllen. Abgesehen davon stehen die Lifte seit dem Wochenende still, 1100 Höhenmeter sind zu erklimmen. Ich trenne mich von den anderen und beginne den Aufstieg.
Die ersten 400 Höhenmeter zur Mittelstation San Forca läuft man erst einen breiten Forstweg und kann dann wahlweise der Piste direkt folgen oder einem interessanter trassierten Wanderweg. Aus Zeitgründen bin ich aber direkt die Piste aufgestiegen. So lässt sich die Mittelstation von der Passhöhe des Tre Croci in 40 min erreichen. Unterwegs ergeben sich aufschlussreiche Ausblicke.
Das Faloriagebiet während des Aufstiegs nach San Forca. Die "Begrünung" der Pisten hier weit unter dem heute üblichen alpinen Standard.
Auch hier deutlich zu sehen: die Pistentrassen befinden sich in grauenhaftem Zustand. Die Sessellifttrasse in der Mitte - zweite Sektion der Liftkette von der Passstraße (Rio Gere) zum Faloriaplateau - ist allerdings in diesem Zustand, weil der Lift gerade ersetzt wurde. Dies ist der Lift den Alpenkönig (?) bei seinem Besuch auf dem Parkplatz liegen sah.
Die Pistentrassen zwischen San Forca und Rio Gere sind auch über weite Strecken in desolatem Zustand. Interessantes Detail: am Gipfel gegenüber scheint es kürzlich einen großen Masseabgang gegeben zu haben. Ebenfalls auffällig: für den Neubau der KSB wurden große Einschnitte in den Berg gebaggert. Die alte Grafferbahn passte sich durch geschickte Seilführung dem Gelände noch an - die DM KSB ist da brachialer. Geiz ist geil?
Im oberen Drittel des Aufstiegs quert man schließlich die Trasse der dritten Anlage am Cristallo: einer kurzen DSB, die aus einem Seitental zurück zur Mittelstation San Forca führt. Ich erinnere mich, dass sie früher notwendig war, um von der Cristallopiste zurück zur Mittelstation zu kommen, weil es den heutigen planierten Weg, der im unteren Teil direkt der Lifttrasse des Eierlifts (im Winter Sessellifts) folgt, noch nicht gab. Ansonsten erschließt der Lift eine kurze blaue Piste, die man als recht gemütlich einstufen darf. Interessant auch die Konstruktion des Lifts: die Tatsache, dass einseitig nur einfache Rollenpärchen existieren (der Lift erlaubt danach wohl auch nur den Betrieb in eine Richtung) ebenso wie die an sich ungewöhnliche Stützenform. Wenig später folgt der erste Blick auf die wahrliche gigantische Forcella Staunies und einen der kühnsten Lifte der Ostalpen.
An der Talstation des Eierlifts widme ich mich erstmal einer ausführlichen Dokumentation der Gondeln: es sind echte Schmuckstücke und wohl die letzten ihrer Art, wenn die Bahn in Piazzatorre nicht mehr laufen sollte! Bis heute konnte ich nicht klären, welcher Hersteller diese Gondeln fabrizierte. Fakt ist, dass sie auf zwei Leitnerbahnen liefen (Livigno und Cristallo, einer Trojerbahn (Kirchsteigeralm) und der Bahn in Piazzatorre deren Hersteller ich nicht kenne, der aber im Carlevaro Umfeld beheimatet sein könnte.
Ein älterer Liftangestellter der Cristallobahn erzählte, dass die Bahn an sich von Leitner ist, die Wintersessel sind uralte Doppelmayrsessel - der Hersteller der Gondeln sei ihm unbekannt. Die Gondeln haben auch andere Klemmen als die Sessel.
Die Gondelklemmen.
Im Talstationsgebäude findet sich auch eine gut ausgerüstete Werkstatt mit Drehmaschine, Bohrmaschine etc. - anscheinend lässt sich die Liftgesellschaft den Betrieb des Lifts einiges Wert sein. Der Antrieb erfolgt bergseitig (kein Wunder bei der Steigung), die Abspannung im Tal.
Blick in die lifteigene Werkstatt.
Anschließend mache ich mich an die zweite Teilstrecke, die 800 Höhenmeter von San Forca zur Forcella Staunies. Es gibt keinen Weg, ich folge der Piste - steil, steinig, aber begehbar. Das Geröll hält ganz gut zusammen, nicht zuletzt aufgrund der Planierungen wie ich vermute. So lässt sich der etwa 350m höher liegende Mittelausstieg des Gondellifts in knappen 50 min erreichen. Unterwegs gewinnt man erste Eindrücke von der kühnen Trassierung der Bahn.
Ein erstaunlich flaches Profil für einen Stützenträger. Ich kenne diese Form so nicht, es scheint wohl die bei Leitner in den 60er Jahren verwendete Profilform gewesen zu sein.
Das erinnert eher an die klassischen Leitnerlifte der 70er Jahre, die oft auch heute noch zuverlässig in Betrieb sind.
Hinter dem ersten Höhenrücken beginnt die eigentliche Scharte. Im Vordergrund die Verzweigung, wo die alte Piste nach links im Bild wegknickt, um zur Talstation der DSB hinabzuführen. Die neue Piste, auf der ich stehe, führt als eine Art Ziehweg direkt zur Gondelstation, so wie ich die Planierungen gedeutet habe.
Blick in die Gegenrichtung wenige Meter weiter. Deutlich zu sehen die Pistenverzweigung. Rechts im Vordergrund der Pomagnonkamm, der in Richtung Cortina steil abfällt und in dem sich wie überall am Cristallo alte Stellungen finden.
Kühn montierte Stütze - dieses ingenieurtechnische Meisterwerk an Liftanlage kam noch ohne Sprengungen und Bagger bei der Stützenmontage aus.
Auch hier: nicht gerade eine Leitner-typische Stützenform, insbesondere die Aufhängung der Rollenbatterien hat fast ein wenig von den Grafferkonstruktionen. Dennoch: nach meiner Info ist die Bahn bis auf die Gondeln komplett von Leitner.
Die berühmte Mittelstation: eine italienisch-charmant eigentümliche Konstruktion.
Offensichtlich ist die Bahn nur für Besucher geschlossen - zu Arbeiten an den Rollenbatterien des obersten Stützenkomplexes werden die Arbeiter mit Hilfe der Bahn nach oben transportiert.
Blick von der Rampe auf die Mittelstation. Die seltsame Seilführung mit ungleichmäßiger Spur, die ich dokumentieren wollte, kommt aus perspektivischen Gründe kaum heraus. Umso mehr mag der ein oder andere an den Wolken erahnen, was mir am Gipfel blühen soll.
Die Stützen in diesem Bereich sind wohl mal verlegt worden - wurde die Mittelstation später eingefügt?
Höllenschotter.
Ab der Mittelstation gestaltet sich der weitere Aufstieg als äußerst schwierig bis geradezu unmöglich. Die Scharte ist hier schon ziemlich steil, bis zur Bergstation, die die ganze Zeit schon sehr nah aussieht sind es noch 450 Höhenmeter (ich musste viel an Alpenkönig denken in diesen Minuten - ich verstehe jetzt, warum Du so "kurz" vor dem Ziel wieder umgedreht bist). Die Scharte ist ohne Stöcke eigentlich nicht zu begehen. Das Geröll hält einfach nichts, einen Weg gibt es nicht; die Spur, die man erahnt, bietet keinen Halt. Ich versuche am Rand der Scharte in den Felsen halt zu finden und beginne dort ein wenig entlang zu klettern. Dies stellt sich schnell als ebenfalls wenig effektiv heraus, weil es einfach zu lange dauert. Und ein anderer, nicht zu unterschätzender Feind lauert hier am Rande der Scharte ebenfalls: der Nachtfrost in Verbindung mit den warmen Sonnenstrahlen des Tages sprengt das Gestein aus den Felsen! Und was für welche! Um die gefährdeten Felsen habe ich von vorne herein einen großen Bogen gemacht und gerade im oberen Teil vergehen nachher keine 15 Minuten ohne dass Gesteinrutsche von filmreifem Ausmaß in die Scharte donnern, so dass nur ein schmaler Korridor von etwa 20m im Bereich der Lifttrasse begangen werden kann.
Während der Himmel immer bedrohlicher den aufkommenden Sturm ankündigt, ist es in der südseitigen und windgeschützten Scharte ironischer Weise geradezu heiß. Nach schweißtreibenden weiteren 40 min erreiche ich kaum 150m oberhalb der Mittelstation die erste kleine Sensation: eine erste Spur des Vorgängerlifts, des Grafferkorbliftes aus den 50er Jahren.
Altes Fundament der Grafferbahn mit typischer talseitiger Versteifung. Interessant die Verbindung zum Felsen.
Was nun folgt ist einfach nur Qual. Eine Höllenanstrengung ohne sichtbare Erfolge. Die Bergstation sieht nach wie vor zum Greifen nah aus, dennoch scheint sie unerreichbar. Jeder Schritt verlangt einem drei Versuche ab, bis man Halt findet, meist rutsch man auch dann zwei Drittel seiner Schrittlänge zurück und muss achtgeben sich nicht zu verletzen. Man glaubt gar nicht wie lose dieses Geröll ist, wenn man die Bilder betrachtet.
1 h 20 min (!) vor dem Ziel!
In der Scharte findet sich Massenweise Schrott. Teils aus dem Lift gefallen und dann durch Schnee oder Geröll befördert, teils wohl auch direkt von Schifahrern verloren worden. Teilweise regt es die Phantasie an, während man sich weiter die Schuttberge hinaufquält.
War dies beispielsweise mal der Boden eines Korbs des alten Grafferlifts? Ich will's ja nicht hoffen...
1 h von hier zur Forcella Staunies!
Im oberen Teil der Scharte werden die Felsen teilweise rostrot aufgrund von Erzvorkommen - ein eindrucksvolles Farbenspiel der Natur. Ansonsten weiter Quälerei im Schneckentempo...
Stütze im oberen Schartenbereich mit der berühmten Hängebrücke des Dibonaklettersteigs im Hintergrund.
Bei den oberen Stützen findet man direkt vor den aktuellen Fundamenten, die früheren Grafferfundamente, die ganz typisch an dem Rundrohrprofil und der Tatsache, dass die Ecken in Trassenrichtung, sprich um 45° gedreht stehen, zu erkennen sind. Deutlich auch im Fels die charakteristische Rotfärbung.
Der Anstieg von der Mittelstation hat zwei Stunden gedauert. Die dünne Luft hat es nicht besser gemacht. Auch die Tatsache, dass man im obersten Teil der Scharte mit jedem Schritt ganze Gesteinsströme löst, und manchmal erst zwei Meter unterhalb seines Ausgangsstandorts zum stehen kommt. Schließlich habe ich ein Seil benutzt, was zwischen den Stützenfundamenten auf dem Boden lag. Rostig und wenig halt bietend, aber das Gestein unter Füßen genug entlastend, um halbwegs sicher aufsteigen zu können. Um kurz vor drei erreiche ich endlich die Plattform der Bergstation.
Alte Teile der Grafferstützen wurden beim Bau der Plattform verwendet (sich verjüngende Rohre).
Der Beginn des Dibonaklettersteigs und Zugang zum früheren Sommerschigebiet.
Die Zeit drängt. Ich soll die anderen um 16.30 Uhr in Cortina abholen, und muss vorher noch an den Tre Croci, wo das Auto steht. Daher bleibt nur kurze Zeit für eine Besichtigung der Bergstation.
Steuerung an der Plattform und Leitnermotor im Obergeschoss, wo man auf dem Weg zum Dibonasteig vorbeikommt.
Gegen 15.00 steige ich die schmale Treppe an der Hauswand der Bergstation hinauf, die man an der Wand entlang auf einem schmalen Steg umrundet - die Scharte bietet keinen Platz für einen separaten Weg. Es schließen sich die Treppen und Stiege des Dibonasteigs an.
Am Ende der Stiegen findet sich ein kurzer in den Felsen gesprengter Durchstich. Dahinter wartete der Sturm. Hatte der Wind schon in dem noch recht geschützten Sattel der Forcella Staunies über das geduckte Dach der Bergstation gepfiffen - in dem Durchstich trifft mich der Sturm mit einer Härte, die das Atmen schwer fallen lässt. Gegen den Wind geduckt erreiche ich das Ende. Ein in eisiges Licht getauchtes, überwältigendes Panorama erwartet mich. Stillschweigend vis-à-vis die Hohe Gaisl.
Hier verzweigt sich der Weg. Senkrecht hinauf folgt der Dibonasteig auf Leitern der Felswand, in die steilen Schründe unterhalb tasten sich marode Seile und verrottete Stiegen hinab, letztere teils losgelöst auf dem Geröll schwimmend, mit fehlenden oder zerbrochenen, teils tückisch trügerisch lauernden Stufen. Der Sturm heult. An eine Begehung dieser Stiegen ist nicht zu denken, es sei denn man ist lebensmüde. Einzig neben den Stiegen im Fels kletternd ist dieser Steig zu "begehen". Hier ist seit Jahrzehnten niemand mehr gegangen.
Auf der Nordseite hat sich der Schnee gehalten, binnen weniger Sekunden sind meine Finger in dem Wind kalt wie Eis. Zum Glück betragen die zu kletternden Passagen nur wenige Meter. Dazwischen muss man steile ausgesetzte Felssimse queren.
Mir wird kälter und kälter, meine Glieder werden klamm. Das Gestein ist mordsbrüchig. Was aussieht wie fester Fels, bricht im nächsten Augenblick in tausend kleine Stücke und geht als Steinschlag zu Tal. Der Sturm raubt mir den Atem. Wenige hundert Meter später entschließe ich mich zur Umkehr: dieser Steig, der schon unter normalen Bedingungen meiner Ansicht nicht gegangen werden sollte, ist unter diesen Bedingung extrem gefährlich. Auch die Steinschlaggefahr für andere macht diesen Weg zu einem verbotenen Terrain. Von dem Punkt meiner Umkehr kann ich jedoch das gesamte Areal des ehemaligen Gletschers überblicken. Nichts.
Rundblick über den ehemaligen Gletscher. Bis auf ein bisschen verrostetes Eisen konnte ich nichts sehen, keine Fundamente, nichts. Ein Film, der einen besseren Geländeüberblick vermittelt:
http://www.trincerone.com/archive/crist ... stallo.wmf
Schrott am Fuße des Gletschers, wohl abgerutschte Teile des Steiges.
Mit eisigen Gliedern und vom Sturm an den Fels gepresst steige ich zurück. Der Wetterbericht spricht später von Windgeschwindigkeiten über hundert Stundenkilometer in dieser Höhe! Am Durchstich grüßt magisch ein letztes mal die Hohe Gaisl im Eislicht.
Ich bin in Eile, der stillgelegte Steig hat mich mehr Zeit gekostet als ich wollte, es ist bereits halb vier. Jetzt, am Ende meiner Wanderung, beweist sich das höllische Geröll der Scharte schließlich doch noch als Segen: es ist von jenem genialen Typ, in dem man wie in Tiefschnee gleiten kann. In einer guten halben Stunde erreiche ich San Forca, weitere 25 min später das Auto am Tre Croci Pass (Forcella Staunies - Tre Croci Pass unter einer Stunde: bitte nachmachen...
). Wenige Minuten später bin ich mit dem Wagen in Cortina. Der Gewaltabstieg wird mir aber noch ein paar Tage bei jedem Schritt in Erinnerung gerufen.
Am Abend im Hotel konsultiere ich alte Kletterführer zum Cristallomassif. Dort finde ich auch die Lösung auf eine Frage, die mir die ganze Zeit nicht aus dem Kopf wollte: wie in aller Welt sollte man diesen Steig, selbst als es noch unterhalten wurde, mit Skiern und Skischuhen gehen. Zwischen den Passagen mit den Leitern, liegen lange, ausgesetzte Traversen, die völlig ungesichert sind. Der unbearbeitete Fels kann mit Schischuhen nicht begangen worden sein. Wenn dieser Steig aber nicht der Einstieg in ein ehemaliges Gletscherschigebiet war, was war er dann?
Réne de Pol Steig - so lautet die Antwort. Dieser Klettersteig in der Nordflanke des Cristallo erschließt die unteren der ehemaligen Stellungen aus dem ersten Weltkrieg. Als Verbindung zum Dibonasteig, der die Gipfelstellungen erschließt wurde die Passage in der Mitte wohl in den 70er Jahren ausgebaut und ist auf der von mit begangenen Trasse in alten Karten auch als René de Pol Via Ferrata eingezeichnet. Später wurde der Weg dann aus irgendeinem Grund im oberen Teil verlegt: heute stößt wenig entfernt über die Forcella Grande deutlich einfacher auf den Dibonasteig. Der alte Steig wurde offensichtlich dem Verfall überlassen. Ob dieser Steif gleichzeitig als Zugang zu einem ehemaligen Sommerschigebiet diente wage ich trotz der zeitlichen Korrelation aufgrund der Schwierigkeit zu bezweifeln.
Wer den Gletscher heute besuchen will, sollte dennoch nicht diesen Steig benutzen. Einen deutlichen einfacheren Zugang hat man von der Forcella Grande aus. Zwar kenne ich die dazwischen liegende Passage des Dibonasteigs nicht, aber nach meinem Kenntnisstand sollte sie für einen schwindelfreien und bergerfahrerenen Wanderer zu schaffen sein. Jedenfalls ist sie deutlich leichter und sicherer zu begehen als das Wrack des Rene de Pol Steigs nach meiner Einschätzung. Eventuell bietet sich auch ein Aufstieg von Norden her an. Finden wird man allerdings wohl wenig auf dem ruhenden Eisfeld - vor allem dieses selbst nicht mehr lange.
Nachtrag: Nachdem ich auf alten Luftaufnahmen den Zustand des Steigs in den frühen 80ern gesehen habe, muss ich meine obige Aussage zurücknehmen. In der Tat war der Steig so gut ausgebaut, dass er früher problemlos auch mit Schischuhen zu begehen gewesen sein muss. Daher dürfte er wohl doch als Zugang in Frage gekommen sein, ich habe mittlerweile auch aus Cortina eine quasi Bestätigung des Sommerschibetriebs gekommen.