Casino-Royal-Tour
Tag 3: Andermatt, 30.01.2007
'Purity'
für Sgt. M.
Es ist stockdunkel, endlich hat die Ruhe der Nacht die Herrschaft über das Après-Ski-Treiben in St. Anton gewonnen, die letzten Wiederklänge rollender Bassdrums aus anonymen Verstärkeranlagen irgendwo talabwärts sind verklungen. Lediglich ein leises Piepen stört die Ruhe, rhythmisch wie ein Morsecode: es ist 5.30 Uhr, mein Wecker klingelt, Zeit zum Aufbruch. Wenige Minuten später treffe ich Gerrit auf dem Gang, wir gehen hinab, laden die Schi in das Auto, kurze Zeit später stehen wir vor dem morgendlich stillen Bahnhof in St. Anton. Eine kleine Odyssey an Zugreise steht mir bevor: St. Anton - Bludenz, Bludenz - Buchs, Buchs - Chur, Chur - Disentis, Disentis - Andermatt. Dafür fahre ich aber - quasi ganz nebenbei - den winterlichen Glacier Express.
Eine gewisse Vorfreude breitet sich wie Wärme in meinem Herzen aus. Eine entsprechende Fahrkarte zu bekommen, war nicht leicht. Die Seite der Deutschen Bahn erlaubt mit einfachen Schritten Fahrkarten für internationale Verbindungen zu kaufen, die dann gratis zugestellt werden. Einen ähnlichen Service gibt es in dieser Form weder bei der ÖBB noch bei der SBB, zumindestens nicht mit Preisangabe vorab. Stattdessen habe ich also gestern direkt am Bahnhof in St. Anton versucht, eine Zugfahrkahrte zu erwerben. Am Fahrkartenautomat sind allerdings nur Fahrkarten für Strecken innerhalb Österreichs erhältlich, der Schalter wiederum ist nur von etwa 9.00 - 11.55 Uhr und 14.00 Uhr - 17.55 Uhr geöffnet. Ehrlich gesagt, finde ich es etwas unverschämt, in einem Schiort - wo man offensichtlicherweise tagsüber schifährt - mit internationalem Klientel, keine Möglichkeit zu schaffen, Fahrkarten ins (nahe) Ausland zu erwerben! Nachdem Gerrit für mich bei der Auskunft der ÖBB nachgefragt hat, ist klar, dass es man nur die Teilstrecken einzeln lösen kann. So kaufe ich am Automat eine Fahrkarte bis Buchs und später dort eine weitere bis Andermatt. Laut Auskunft - mit der Gerrit sich übrigens derart wortgewandt auseinandersetzte, dass allein das Zuhören ein Spaß war! - soll zwar ein Ticket auch beim Schaffner erhältlich sein, dies stellt sich allerdings bald als Fehlinformation heraus. Die Summe beider Tickets hält sich aber im Rahmen dessen, was mir für die Strecke akzeptabel erscheint, insofern lege ich die ganze Angelegenheit ad acta.
Eine kurze Zigarette später stehen wir auf dem zugigen Bahnsteig, der EN "Telefonische Seelsorge" läuft ein! Ja, in Österreich kann man sich Namen von Fernverkehrszügen kaufen. Ich grinse in mich hinein: da würden mir so einige lustige einfallen! Angefangen von EN "Claire Grube" über "Willma Fick" EN oder vielleicht auch der EuroCity "Commando Lybia" - da ginge so einiges! Ein kurzer Abschied, dann sitze ich im Zug, ein weiteres mal dankbar für den Komfort der ÖBB, wo ich Schi problemlos verstauen kann und ein ruhiges gemütliches Abteil finde. Lustigerweise kommt genau mit diesem Zug meine Nachfolge für Gerrits Crew aus Wien nachgereist. Das Leben ist ein ewiger Zirkel.
Ein Klappern, ein Ruck, dann ist dieser erste Teil einer großartigen Tour Geschichte, die nur noch durch die Worte, die ich später finden werde, noch einmal lebendig werden kann - und durch die, die ihr sie lest. Und dennoch: nicht Wehmut, sondern Euphorie bestimmt meine Gefühle dieser Stunde, liegt doch vor mir so viel Großartiges, dessen Ausmaß mir in seiner Unbekanntheit noch verschleiert bleibt.
Eine Fahrt mit dem EuroNight hat immer irgendwie etwas Besonderes: es ist so herrlich still. Niemand telefoniert, niemand parlavert lauthals, ich, der ich mich stets zu vielen Reizen - und zu vielen zu sinnlosen - ausgesetzt sehe, kann dies trotz kommunikativer Natur nur genießen. Wahrlich interessant, scheinbar einzig wacher Geist unter all den übernächtigten gespenstergleichen Menschen zu sein. Erneut wandert mein geliebter alter U70 auf meinen Kopf, erneut lausche ich den melancholisch weichen Klängen von Radiohead, während ich durch die so herrlich stille winterliche Nacht im Herzen Europas gleite.
Mit der Stille ist es vorbei, als im Nahverkehrszug von Bludenz nach Buchs eine Grundschulklasse zusteigt, deren eine Hälfte mir nach kurzer Zeit beinahe auf dem Schoß sitzt. Nun denn, auch wenn meine Müdigkeit mir gerade Ruhe ans Herz legt, so mag ich keinem Kind verübeln wach und lebendig zu sein: zu sehr habe ich die erzwungene Ruhe der Erwachsenen in meinen eigenen Kindertagen gehasst, zu sehr wünsche ich mir manchmal, selbst diese Energie noch einmal entfalten zu können. Und jetzt, da die Sonne beginnt das Firmament in sanfte grau-blaue Töne zu hauchen, darf auch nichts anderes als Aufbruchsstimmung und die Vorfreude auf den kommenden Tag, das Lebendige an sich, die Gedanken berühren.
In Buchs habe ich etwas Zeit, ich stehe auf dem Bahnsteig, rauche eine weitere Zigarette, komme mit einem jungen Kerl - seines Zeichens Lehrling aus Zürich - ins Gespräch. Im Hintergrund registriere ich, wie die Schweizer Grenzbeamten einen jungen Mann und eine junge Frau unter lautem Fluchen in den Nahverkehrszug nach Österreich befördern - was mag der Grund gewesen sein? Mag sein, dass alles gerechtfertigt war, ich weiß es nicht, lautstarkes Auftreten der Staatsdiener für Schutz und Sicherheit ist mir dennoch immer und überall suspekt - Teil eines deutschen Vermächtnisses? Und während die beiden Ausgewiesenen im Zug sich noch die Verwünschungen des Grenzpolizisten anhören dürfen, reist auf der anderen Seite des Bahnsteigs ein junger Deutscher, für den - ob seiner gepflegteren Kleidung und des charmanten Lächelns
? - die Grenzpolizei wie stets einen höflichen Gruß bereithält, völlig ohne Papiere in die Schweiz ein...
Wie sich die Menschen ändern mit den Zügen, schneller als die Landschaften, schneller als das Licht des Morgens. Von Buchs nach Chur fahren die Pendler und Schifahrer, es ist lebendiger geworden, bei allen schwingt der Anbeginn des Tages mit. Ich schaue es dem Fenster, immer wieder auf die Deiche des Rheines, sofern sie sichtbar sind. Wie habe ich mich einst hier Stunde um Stunde mit Rad entlang gemüht, Kilometer um Kilometer auf einem nichtssagenden Deich. Doch erst ab Chur, wo ich in den kleinen Schmalspurzug der RHB umsteige, wird es wirklich spannend! Die enge gewundene Trasse durch das verlassene Tal des Vorderrheins, stets nahe dem Bachbett und fern von Zivilisation und Straßen - eine faszinierende Bahnstrecke. Ich erinnere mich, wie ich mich als Jungendlicher im Sommer auf der Suche nach den lange aufgegeben Schmalspurstrecken durch das Gestrüpp und Unterholz, Bachbetten und Höhenrücken des Harzes gekämpft habe - stets bemüht mir vorzustellen, wie es gewesen sein muss, als noch Züge diese heute kaum mehr zu findenden Trassen befuhren. So ist ein bisschen die späte Erfüllung eines Jugendtraumes, hier entlang zu fahren - auch wenn mir das vor Fahrtbeginn noch nicht bewusst war.
Meinen Gedanken nachhängend, den Blick in den einsam vorbeiziehenden Tallandschaften verlierend, entgleite ich wiederum in meine eigenen Welten. Als ich wieder erwache, strahlt mir die Sonne ins Gesicht - das erste mal an diesem Tage hat sie den Weg über Kämme und Grate zu beiden Seiten des Tales gefunden. Eine wunderbare Winterlandschaft des weiten Vorderrheintales liegt vor mir. Ich mag diese Bahn! Ich mag ihre Trasse, ich mag die Tatsache, dass es sie noch gibt - und ich mag die Ansagen auf rätoromanisch! Die Konsequenz, mit der diese Sprache, die in diese Lande gehört, erhalten wird, gefällt mir. Sie spricht von einem schönen Bezug zu den Orten und Plätzen, woher man kommt. Früher war so etwas für mich bedeutungslos. Mit den Jahren hat sich das geändert: ich mag Dialekte, ich mag Traditionen - zumindest zu einem gewissen Grad. Die Vereinheitlichung und Gleichmachung, die die Gesellschaft, in der ich lebe, ironischerweise anstrebt, ist mir ein Graus. Ich freue mich, die kleinen Unterschiede wahrzunehmen, und finde es schön, wenn Menschen einen Bezug haben zu dem Ort, von dem sie stammen. Natürlich darf dies nicht ausgrenzend sein, dann ist man schnell im Lager der inzestösen Patrioten - aber als konstruktives Element für ein Miteinander und Bejahnug der eigenen Wurzeln kann diese Verbundenheit wundervoll sein. Ich selbst musste erst in den Süden meiner Republik ziehen, um dies zu verstehen. Ich freue mich heute über all die Dialekte, die die deutsche Sprache hervorgebracht hat, über die italienische Kultur, die französiche Kultur, all die anderen Kulturen in Europa und der Welt - nicht weil eine davon besser ist als die andere, sondern weil jede anders ist. Pluralismus und Vielfalt! Und so kann ich daheim über die Felder hinter dem Haus meiner Eltern gehen, und mich freuen, wenn im Herbst wie jedes Jahr das ganze niedersächsische Land vom Geruch der Zuckerrüben und Kohl erfüllt ist. Es hat mich viel Zeit gekostet zu finden, was das bedeuten kann. Und genau deshalb freue ich mich heute über die rätoromanischen Durchsagen der RHB und die Tatsache, dass sie noch nicht Oberalp Mountain Paradise Shuttle heißt!
In Disentis steige ich ein letztes Mal um. In der Sonne auf dem Bahnsteig treffe ich Michael Meier, cool Dich nach so langer Zeit wieder zu sehen! Und cool, dass Du von Andermatt heute morgen mir entgegen gefahren bist, damit wir ein Stück zusammen fahren können. Aber das ist eben Michi, der sich wie stets sehr viele Gedanken um die Leute macht, die vorbeischauen! So gibt [trincerone]TrashTours ein weiteres Mal das Heft des Reiseleiters aus der Hand.
Die Fahrt gestaltet sich wunderbar, eine wahre Krönung dieses kleinen Eisenbahnabenteuers. Michi kann einem zu jedem neuen Abschnitt des Tales etwas erzählen: die Bahnen, die Porta Alpina, die millitärischen Anlagen - und unzählige Geschichten aus seinem eigenen Repertoire. Langweilig wird es niemals. Höhepunkt der Strecke ist der Oberalppass. Die Gegend hier oben, in die im Winter sich nur die Bahn sich vortastet, das alles wirkt wie in Schweizer Idyll aus den 50er Jahren auf mich. Skifahrer stehen an den alten Gleisen und warten auf den Schizug, ein altes mit dicken Wänden erbautes Haus mit roten Fensterläden dient als Unterkunft. Alles geht seinen eigenen Weg, in seiner eigenen Gemächlichkeit! Mich fasziniert es, hier sehe ich ein Winterurlaubsidyll jenseits der ungezählten Pistenkilometer, das mich einlädt, einmal mit mehr Zeit wieder zu kommen. Und so ist es wie stets auf meinen Alpenreisen: wenn ich mir die Zeit nehme, nicht von einem Ort zum nächsten zu eilen, dann finde ich am Wegesrand meist Kleinode, die Inspiration für neue Reisen und manchmal auch Abenteuer werden.
Am Oberhalbpass.
Auf der Rampe hinab nach Andermatt, wird der Blick auf den Gemsstock frei, das anspruchsvollste Schigebiet Andermatts, das unser heutiges Ziel darstellt.
Andermatt.
Andermatt als Schiort erobert sofort mein Herz! Vom Bahnhof folgen wir den verschneiten Gassen des Dorfes in den alten Ortskern, wo Michi wohnt. Der Ort ist so voll von Authentizität! Es ist kein kleines Bergnest, in dem die Zeit stehen geblieben ist, kein mondäner Schiort voll von internationalem Trubel, kein herausgeputztes Touristendorf, das versucht sich den Charme eines alten Bauerndorfes in seine Fassaden zu lügen: es ist einfach Andermatt. Uri, die Schweiz, der Gotthardt, Andermatt. Nicht mehr und nicht weniger. Das überzeugt mich - diese Ehrlichkeit ist erfrischend und hat auch etwas Reines. Kein Disneyland, das nach dem unterstellten Phantasiebild der Touristen aus dem flachen Norden gestaltet wurde, einfach ein schweizer Bergort, der sich primär darum schert, sich selbst zu gefallen und in dem Tourismus erst danach an zweiter Stelle zu folgen scheint. Ich habe mich selten so schnell so wohl an einem Ort gefühlt - vielleicht ist es auch das, was ich immer wieder an Italien liebte.
Nach einem kurzen Zwischenstopp in Michis Wohnung und einem kleinen Intermezzo beim Bäcker gegenüber, laufen wir - die Schi geschultert - durch das sonnige Dorf zur Gemststockbahn. Nach dem Kauf der Schipässe bleiben einige Minuten Zeit, bis die nächste Gondel fährt. Es sind aber - wie den ganzen Tag über - nur wenige und wir sitzen vor der Bahn in der Sonne. Ganz ehrlich - eigentlich ist es schöner so, man muss nicht mal vor sich selber rechtfertigen, warum man die Sonne genießt, anstatt sofort in den Lift zu eilen.
Die ganze Talstationanlage ist höchst gelungen. Eine kleine, gefällige und modern wirkende Station, kurze Wege - funktional und schön zugleich. Mit atemberaubender Geschwindigkeit ist man an der Mittelstation, das schafft keine Umlaufbahn. So haben wir die fünf Minuten vor der Pendelbahn also eigentlich gar nicht verloren, im Gegenteil: statt in irgendeiner Funitelkabine, haben wir sie in der Sonne verbracht. Das Trassé der Bahn ist beeindruckend, ebenso die Weite der Landschaft. Nach einem kurzen Wechsel der Kabinen stehen wir am Gemsstock: ich bin total überwältigt! So unspektakulär der Berg von unten aussieht, so genial ist der Blick von oben. Nach Norden gleitet er das Gotthardtal hinab bis jenseits der Grenze der Berge in das Alpenvorland. Im Westen grüßen alle Viertausender von Monte Rosa bis zum Finsternaarhorn, im Süden endlose weite unberührte Hänge einer verlassenen Welt, bis am Horizont sich schemenhaft das Tessin abzeichnet. Und im Osten - vis-à-vis - ein grandioser Blick auf den Oberalppass. Wahrlich, ein beeindruckender Ort. Der nächste Berg, den ich völlig unterschätzt habe! Wenn man diesen von unten so unscheinbaren Gemsstock aus dem Tal betrachtet, vergisst man eben, dass sein Gipfel ein Dreitausender des Alpenhauptkammes ist. Und die stille Schönheit ist nicht selten die intensivste...
Sektion II.
Blick vom Gipfel in Richtung Süden und Tessin.
Wir schießen die Sonnenpiste, die westliche der beiden Abfahrten vom Gemsstock, hinab zurück ins Tal. Eine absolute Traumpiste! Herrlich trassiert, mal eng, mal weit, steil mir kurzen Schwüngen, dann wieder in atemberaubenden Schussfahrten. Die Sonne flutet dieses abgeschiedene Hochtal des St.-Anna-Gletschers, durch das sich die Piste fern der Infrastruktur hinabzieht, und leitet uns den Weg. Wie ein Aufwind strahlt sie uns entgegen, trägt uns, als würden den Schi den Boden gar nicht mehr berühren.
Und noch etwas passiert auf diesen Metern: ich beginne die C4 zu verstehen. War ich noch in Lech am ersten Tag kaum in der Lage, die Schi präzise zu lenken, und wäre da nicht eine überraschend positives Handling im Tiefschnee gewesen, ich hätte wenig Ambitionen gehabt, die Schi noch einmal zu benutzen. Keine der mir bekannten Schitechniken - und das sind schon ein paar mittlerweile - schien geeignet, mit den Schi berechenbare Bewegungen, Schwünge oder Bremsmanoeuver zu absolvieren. Am ehesten bin ich noch mit einer aufrechten Haltung, breitbeinig zurechtgekommen, bei dem ich mich in die Kurve legte und die Schi über die Kante gezogen habe. Alles in allem etwas, was mich erschreckend an ein schlechtes Carvingstilimitat meinerseits, der ich diesen Stil ja nun wirklich nicht beherrsche, erinnert hat! So bin ich am zweiten Tag auch stattdessen leihweise mit einem Paar Carver von Gerrit gefahren - so ungern ich das schreibe.
Hier, auf diesen Metern, entwickle ich, warum auch immer plötzlich, ein Gefühl für die C4 - und dann geht es ab. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte mal so unglaublich schnell so präzise schigefahren bin! Wenn überhaupt, dann nur in den 90er Jahren mit den Atomic ARC damals. Steilstufen, Beschleunigung, Tiefe - das alles ist nicht mehr Hindernis, sondern Werkzeug, das alles machen sich Mensch und Material zu eigen, um noch schneller in die schattige Tiefe zu schießen. Ich bin völlig fasziniert. Einzig die erloschene Spannung in den Schi macht sich negativ bemerkbar, wenn es hart und ungleichmäßig wird: dann ist der Kantengriff einfach nicht vorauszusehen. Ansonsten ist es einfach nur genial: Beschleunigung, schnelle Schussfahrten bei hoher Präzision - es ist wie Porsche-Fahren auf Schiern. Ein dreißig Jahre alter Schönwetter-Porsche sicherlich, mit einem wohl lädiertem Fahrwerk, das nicht mehr unter allen Bedingungen optimales Handling erlaubt - und trotzdem, ich kann mich nicht erinnern, jemals so schigefahren zu sein!
Spät reiche ich hiermit jetzt den Pistenplan nach, der die drei Andermatter Schigebiete, die durch die Eisenbahn mit einander verbunden sind, zeigt. Neben dem Gemststockschigebiet in der Mitte sind links der Nätschen und rechts das Winterhorn im Hospental zu sehen. Das Schigebiet am Gemsstock wird in erster Linie durch die beiden PB Sektionen erschlossen, wobei die untere eine steile schwere Talabfahrt erschließt und die obere zwei lange, zügige und anspruchsvolle Pisten rechts über den St.-Anna-Gletscher (Sonnenpiste) und links über den Gurschengletscher. Unterhalb der Mittelstation stehen mit dem Gurschensessellift, der bei Bedarf durch einen ziemlich cool trassierten Schlepplift gedoppelt wird, recht einfache Pisten bereit, die durch ihr kuppiertes Gelände bestechen. Ganz unabhängig von der Hauptachse läuft links außen am östlichen Rand des Gebietes, der steile, spektakuläre und abenteuerliche Schlepplift Lutersee, dessen schmale Trasse allein ein kleines Erlebnis ist und der in dieser Form bereits Lust auf die Abfahrt macht - weil es eben keine alltägliche Auffahrt ist, die man mal eben so mitnimmt. Oben finden sich dann mehrere Abfahrtsvarianten, die ebenfalls durch geniales Trassé zwischen steil und weit, Kurzschwung und Schussfahrt bestechen.
Die Pisten sind allesamt so abwechslungsreich, dass es völlig egal scheint, ob es anderswo noch hundert Kilometer mehr Pisten gibt, im Gegenteil: man ist froh, dass man nicht hundert andere Pisten fahren muss, sondern solch tolle Pisten, wie diese hier, vorfindet! Vor allem nämlich gibt es, und das ist das wichtigste, Raum. Raum für alle, ihre Schwünge zu ziehen, diese genialen Trassierungen richtig auszureizen, bei jeder Abfahrt auszuprobieren, wieviel mehr Tempo in der engen Kurve da unten, links nach dem Schussstück, eigentlich noch geht. Das ist das wundervolle an solch herrlich trassierten Pisten: man nimmt sich die Zeit, sie kennen zu lernen. Man kennt ihre Stärken, ihre Gefahrenstellen, ihre Kurven und Steilstücke - man findet heraus, wie man sie fahren kann und muss. Und plötzlich mag man sich mit einer dieser Pisten einen halben Nachmittag lang beschäftigen, um ihren Geheimnissen immer näher zu kommen. Wenn dann wie hier genügend Platz und Sicht ist, die Pisten wirklich an ihre Grenzen zu fahren, ohne dabei ein Risiko einzugehen, dann entwickelt sich ein Schigenuss, für den man sich andernorts meist gar nicht die Zeit nimmt. Eine völlig unbekannte Schipiste würde ich sicherlich nicht so extrem schnell hinabfahren wie diese Pisten hier. Ist man die Abfahrt aber einige Male gefahren, weiß man wo die engen Kurven, die Eisstücke und Buckel sind - dann bleibt Zeit sich nach oben in Geschwindigkeitsbereiche vorzutasten, die ich zumindest sonst selten ansteuere.
Im Luterseelift.
Michi an der Bergstation des Luterseeliftes.
Piste und Blick zur Gemsstockbahnmittelstation, die übrigens wie alle Anlagen hier, sehr cool das vorhandene Gelände nutzt und interessant darin plaziert ist.
Traumpiste mit Luterseelift und Andermatt.
GurschenDSB.
Leichte Abfahrten im Bereich der Gurschensesselbahn und erste Sektion der PB.
Und noch etwas lässt sich in Andermatt feststellen: wie genial eine Pendelbahn als Beschäftigungsanlage sein kann. Lange Trasse, großer Höhenunterschied - lange Piste! Es ist völlig faszinierend, solch große Abfahrten in einem Stück hinab zu fahren und kurze Zeit später schon wieder am Gipfel zu stehen. Keine Umlaufbahn würde dies so schnell schaffen. Die wenigen Minuten, die man auf die Abfahrt der Kabine auf dem Bahnsteig in der Sonne wartet, kommen einem nach einer solchen Abfahrt als kurze Erholung gerade recht. Und so verändert sich das Schifahren und konzentriert sich stärker: die Abfahrt ist lang, fordernd und anstrengend - dafür ist auch die Pause länger und es ist Zeit für eine Regeneration. Mir liegt diese Art von Schifahren sehr! Es ist weniger gleichförmig und irgendwie von meinem Standpunkt aus auch ursprünglicher. Wie spielerisch leicht und schnell die Bahn die Distanz und den Höhenunterschied überbrückt, fasziniert mich jedesmal erneut.
Das schöne an Andermatt ist, dass das alles in dieser Form funktioniert. Es ist das wunderbare Privileg eines in sich stimmigen Systems. Natürlich wäre die Pendelbahn überfordert, würden mehr Gäste kommen. Die Anlage wäre zu ersetzen. Dann aber würde der Platz auf den Pisten nicht mehr ausreichen, Rennen, wie wir sie heute gegeneinander fahren, wären nicht nur höchst gefährlich, sondern schlicht unmöglich. Vor allem müsste man aber die Pisten verbreitern und entschärfen, die Varianten als neue Pisten erschließen und die Ersatzanlage dürfte nicht mehr auf dem viel zu engen Gipfel ankommen. Am Ende stünde ein Standardschigebiet, dessen schifahrerische Qualität deutlich hinter dem zurückstünde, was heute geboten wird. Aber gerade - und das ist der interessante Punkt des stimmigen Systems - weil keine modernen Hochleistungsanlagen vorhanden sind, weil die Pisten steil und anpruchsvoll und nicht entschäft sind, weil der steile Starthang am Gipfel noch existiert, kommen gar nicht erst so viele Schifahrer hierher - und schon funktioniert das System in sich selbst. Ich finde derartige Eigendynamiken sehr faszinierend.
Solche beobachtet man bei vielen Systemen und es ist hoch interessant, sich mit dem für und wider von Veränderungen in solchen Systemen auseinander zu setzen. Meistens ist es vorteilhaft, augenscheinliche Verbesserungen nicht als Verbesserungen, sondern zunächst als Vernänderungen wahrzunehmen und sich nach den Folgen dieser Veränderungen zu fragen. Oft wird man feststellen, dass sich sowohl positive wie auch negative Folgen beobachten lassen. Erst wenn man diese bewertet und gewichtet und dann gegeinander (für Tipe: und untereinander
) abwägt, kann man entscheiden, ob die Veränderung auch eine Verbesserung darstellt - und diese Entscheidung kann je nach Präferenzen von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausfallen.
Renommiertes Beispiel sind die hochgradig dynamisch komprimierten und gelimeteten modernen Plattenproduktionen. Im Vergleich zu denen der letzten drei Jahrzehnte klingen sie fetter und lauter, ältere Aufnahmen dagegen dünn. Allerdings bringt eine solche Kompression auch Veränderungen im Klang mit sich, viel Klanginformation geht verloren und die fast gleich bleibende Lautstärke wirkt auf Dauer eintönig. Ich würde nicht sagen, dass Plattenproduktionen der vergangenen Jahrzehnte zwangsweise besser waren, aber es ist schon interessant, wie man Pink Floyds "Dark Side of the Moon" immer wieder hören kann, ohne den Klang als anstrengend zu empfinden und wie man nach fünzig oder hundertmal hören noch Elemente im Klang entdeckt, manchmal ganze Instrumentierungen, die einem vorher nie aufgefallen sind. Dies dürfte einem wohl bei Prodigys "Always outnumbered, never outgunned" eher nicht passieren. Genau aus diesem Grunde werden Aufnahmen klassischer Musik eben auch heute noch nämlich überhaupt nicht komprimiert. So hat der Fortschritt in der Technik einerseits ganz neue Klangwelten ermöglicht was Dichte und Intensität anbetrifft, auf der anderen Seite ist auch vieles verloren gegangen, was früheren Aufnahmen immanent war. Erst wenn man für sich selbst entscheidet, was einem persönlich wichtiger ist, kann man beurteilen, ob man die gegebene Entwicklung für einen Fortschritt hält oder eben nicht.
In der Bergstation führt eine alte kleine Treppe durch die Betonschächte hinauf in die oberen Geschosse. Im ersten Stock zeigt Michi mir die alte frühere Einfahrtsebene aus der Zeit, als der Gletscher noch bis an die Station heran reichte. Heute sind die Einfahrten zugemauert, der Gletscher ist weit unter die Stationsunterkante abgeschmolzen. Das in den darüber liegenden Etagen geplante Restaurant wurde nie verwirklicht. Stylish und gespenstisch liegen die verwaisten Ebenen im dimmrigen Halbschatten im Herzen des Betonkolosses. Im oberen Bereich des Gebäudes verlässt die Treppe die Station durch einen Durchbruch in der Wand und führt außen an der Betonmauer hinauf bis auf das Dach. Von dort gelangt man über einen Metallsteg zu den nahen Felsen. Was für eine coole Konstruktion, es sind genau diese Kleinigkeiten wie solche Stege, Treppen und Skistollen, die dem Schifahren den Hauch von Abenteuer seiner Pioniertage geben. Es ist faszinierend auf dem Dach der Pendelbahnstation zu stehen und auf deren Trasse und die ganze weite Bergwelt rundherum zu schauen. Viel zu selten ist dies möglich, viel zu oft ist die Liftanlage nur Mittel zum Zweck. Hier ist sie Teil des kleinen Abenteuers, wenn der Boden zwischen den Gitterroststufen im unscharfen Nichts zu verschwinden scheint. Noch grandioser wird es, wenn man am Ende des Stegs über die Absperrung steigt und die letzten Meter auf den Gipfel klettert. Hier steht ein einsames Fundament der Bauseilbahn aus den frühen 60er Jahren und ein metallner Pfahl. Der Blick schweift in alle vier Himmelsrichtungen zu den Größen der Alpen, rund um uns fallen die Felsstufen steil ab. Wir sitzen auf dem Fundament in der Sonne und genießen den Hauch von Freiheit, den uns Sonne und Wind als stillen Gruß entgegen tragen.
Diese unscheinbare kleine Treppe führt duch das alte Betongebäude in ein kleines Paradies.
Zur Sonne, zur Freiheit... [schön, dass ihr dabei seid! ]
Die letzten Meter auf der Außentreppe.
Der Steg auf den schmalen dreitausend Meter hohen Felsgrat westlich der Station.
Vom Steg über die Absperrungen kann man auf den Gipfel klettern, oben vom alten Betomfundament der ehem. Baubahn ergibt sich ein wundervolles Panorama. Blick zurück auf die Station mit begehbarem Dach, die letzte Außentreppe und unsere Schatten.
Meine Wenigkeit auf dem schmalen Gipfelgrat.
Blick auf das Schigebiet am Nätschen die Göschenenschlucht hinab bis ins Alpenvorland.
Weiter Talkessel des St.-Anna-Gletschers mit der einsamen Sonnenpiste.
Gemsstockbahn vom Gipfel aus mit Baubahnstützensockel, Bätzenbergfestung und Göschenen im Hintergrund.
Blick vom Gipfel nach Südwesten auf die Gletscher des Tessins und den Monte Rosa. (Klein, leicht rechts der Bildmitte).
Blick nach Süden ins Tessin Richtung Airolo.
Nach diesem wunderbaren kleinen Gipfelausflug - es sind diese Kleinigkeiten, die einen Schitag zu einem grandiosen Bergerlebnis machen -, den ich wieder mal Michis tollen Ortskenntnissen verdanke, stauben wir ein weiteres mal die Sonnenpiste hinab, um noch einmal die tollen Pisten am Luterseeschlepplift zu fahren. Die letzte Gondel des Tages, ist dann der Abendstimmung am Gemsstock gewidmet.
Lutersee-SL im Abendlicht. Tolle Stimmung an dieser einsamen Anlage.
DSB Gurschen im Streiflicht.
So stehen wir also auf dem immer leerer und ruhiger werdenden Gemsstocksattel, während sich die Sonne gen Westen senkt. Östlich des Sattels führt ein kleiner alter Steig in die Felsen hinauf. Wir folgen ihm einige Meter hinauf und stehen erneut oben in den Felsen, diesmal auf der anderen Seite. Es ist immer wieder faszinierend, wie solch wenige Meter noch einmal wahnsinne Gewinne an Perspektive und Stimmung bringen können. Nur über einen ganz schmalen Weg an den Felsen im Steilhang gelangt man über die ausgesetzten Felsen hinauf - um einen herum nur schattig blaue Tiefe, während die langen Strahlen der orangenen Abendsonne über die Gipfelfelsen streifen.
Steil fällt der Hang, der nur wenige Zentimeter Tritt lässt, nach Süden ab.
Durch ein schmales Felstor gelangt man auf die andere Seite.
Ausgesetzter geht es kaum.
Bahn und Gurschengletscher aus den Felsen betrachtet.
Tolle Perspektiven ergeben sich hieroben, auch wenn wir nur wenige Meter von der Station entfernt sind, ein Unterschied wie Tag und Nacht!
Beim Abstieg über den schmalen ausgesetzten Steig.
Meine Wenigkeit vor der Bergstation des Gemsstockpendelbahn. Über dem neuen Eingang erkennt man den zugemauerten alten Eingang aus der Zeit, als der Gletscher noch höher war und die Bahn eine Ebene weiter oben in die Station einfuhr.
Gemsstockpendelbahn und Starthang. Früher reichte der Gletscher bis hier hinauf.
Der steile Gletscherstarthang.
Ein letztes Mal erwarten und die Fluten von Licht und Schatten auf der Sonnenpiste, dann stoßen wir die 1500m Höhenmeter in schattige Tal nach Andermatt hinab.
Steile, spannende, heute leider steinige Talabfahrt mit grandiosem Blick auf den Oberalppass.
Rückkehr durch ein stilvoll stilles, charmantes Andermatt zu Michis Domizil.
Wir laufen durch das abendliche Andermatt zurück zu Michis Wohnung. Nach ausgiebiger Dusche und endlich in frischen Klamotten bleibt Zeit, ein bisschen Geschichten, Seilbahnwissen und ähnliches auszutauschen. Danach spazieren wir durch das abendliche Dorf in ein nahes Restaurant, wo es - so musste es sein - Fondue gibt. Ein wunderbares Essen, wieder einer von Michis wunderbaren Einfällen. Ziemlich erschöpft falle ich nachher auf das Sofa - ich könnte sofort einschlafen, morgen ist wieder um sechs Uhr aufstehen angesagt - der erste Zug nach Zermatt wartet. Doch leider wird nichts daraus: Michi hat diverse Ausgaben der ISR aus den 60er und 70er Jahren. Großartige Hefte, auf einem Niveau geschrieben und mit technischen Detailausführungen versehen, die weit jenseits dessen liegen, was man dort heute liest. Dazu traumhafte Bilder und so viele Dinge, die man schon immer einmal wissen wollte. Genial!
Und so studiere ich noch bis spät in die Nacht die alten Hefte, ohne auch nur ansatzweise ihren wirklichen Inhalt erfassen zu können. So geht schließlich der wohl schönste Skitag dieser Saison zu Ende. Andermatt und der Gemsstock sind ohne Mühe das von meinem Standpunkt aus betrachtet tollste Schigebiet, das ich in dieser Saison besucht habe! Grandiose Landschaften, grandiose Pisten, die unzähligen Varianten nach Süden noch gar nicht eingerechnet, die Andermatt zu einer Top-Freeride-Destination machen sollten. Sowie Alagna italienische Gemütlichkeit in unverfälschter Reinform bot und bietet, so findet man diese auf schweizerisch in Andermatt. So viel Echtheit und Authenzität begeistert, und wie so oft bietet das kleine Schigebiet so viel mehr als manch großer Stern der Alpen. Und wenn der Wind des Nachts leise von Dreitausendern in das Dorf hinab streicht, bringt er etwas Edles und Schönes mit sich, dass manch reichem und schönen Topschiort der Alpen verloren gegangen scheint - mit einer Spur von Abenteuer verbunden: ein Hauch der Berge Reinheit! 'Purity'!